Boden unter Druck

Bauen gegen Naturschutz: Ausgleichsmaßen sind heutzutage gesetzlich vorgeschrieben, wenn Eingriffe in die Landschaft aufgrund von Bauprojekten vorgenommen werden. Doch nicht immer gelingt die Kompensation oder wird nur ungenügend realisiert. Auch ist von einer Mäßigung oder gar einer aktiven Verringerung des Flächenverbrauchs bislang nur wenig bis kaum etwas zu spüren.

Täglich werden hierzulande rund 62 Hektar Land bebaut, um neue Straßen, Wohn- und Gewerbegebiete zu schaffen. Das entspricht rund 88 Fußballfeldern, die stattdessen versiegelt, das heißt bebaut, betoniert, asphaltiert, gepflastert oder anderweitig befestigt sind. CDU und SPD wollen darum den Flächenverbrauch bis zum Jahr 2030 auf maximal 30 Hektar/Tag halbieren. Wie nötig es ist, zeigt sich am Bauboom der letzten Jahre, der seinen Tribut forderte. So wird es immer schwieriger, Bodenaushub auf die Deponien zu fahren. Von den pro Jahr in Deutschland anfallenden etwa 275 Millionen Tonnen mineralischer Abfälle machen die mineralischen Bauabfälle inklusive Böden rund 80 Prozent aus. Doch nach wie vor gibt es keine Einigung bezüglich der sogenannten Mantelverordnung. Weder Bund noch Länder konnten sich auf den vorgelegten Entwurf einer Ersatzbaustoffverordnung einigen. Kern der Debatte: Wie lassen sich Boden und Grundwasser ohne erhebliche Verwertungseinschränkungen und Stoffstromverschiebungen hin zur Deponie schützen?

„Wir brauchen rechtssichere und bundeseinheitliche Regelungen für die ordnungsgemäße und schadlose Verwertung mineralischer Bauabfälle einschließlich Böden“

äußerte Dr. Matthias Jacob, Vorsitzender des Hauptausschusses Technik im Hauptverband der Deutschen Bauindustrie, zur Entscheidung, die weiteren Beratungen über das Vorhaben in den Ausschüssen und im Plenum des Bundesrats in das kommende Jahr zu verschieben. „Wir sind allerdings skeptisch, ob es einer weiteren Arbeitsgruppe in den kommenden Monaten gelingen wird, woran Bund und Länder in den vergangenen rund 15 Jahren gescheitert sind“, so Dr. Jacob weiter. Er wies darauf hin, dass der aktuelle Entwurf dem Anspruch nicht gerecht werde, wirtschaftlich tragbare und in der Praxis sowohl für Bauunternehmen als auch für Vollzugsbehörden gut umsetzbare Regelungen zu schaffen. Deshalb plädierte er für einen anderen Ansatz: „Mittels eines Bauabfallverwertungsgesetzes nach österreichischem Vorbild könnte ein konsistenter, rechtssicherer und vollziehbarer Regelungsrahmen geschaffen werden. Das Ziel der Verordnung ist die Förderung der Kreislaufwirtschaft und Materialeffizienz. Die Verordnung richtet sich etwa an den Bauherren, wonach dieser für die ordnungsgemäße Durchführung und Dokumentation des Rückbaus verantwortlich ist. Bauabläufe brauchen klare Verantwortlichkeiten. Man muss auf der Baustelle beproben und entscheiden können, ob verwertet werden kann oder auf Deponien beseitigt werden muss“, so Dr. Jacob.

In Österreich ist das Thema Bodenversiegelung noch ausgeprägter. Nirgendwo sonst in Europa verschwindet prozentual gesehen so viel ökologisch wertvolles Land durch Siedlungsmaßnahmen und durch den Verkehrswegebau. Stehen diese Flächen nicht mehr zu Verfügung, ist der Boden als Lebensraum für Pflanzen und Tiere verloren. Die Artenvielfalt leidet. Erst im Mai 2019 hatte der Weltrat für Biodiversität (IPBES) in seinem globalen Zustandsbericht darauf aufmerksam gemacht, dass rund eine Million Arten weltweit vom Aussterben bedroht sind und der Mensch als Verursacher des sechsten Massensterbens in die Geschichte einzugehen drohe.

 „Beängstigend ist dabei auch die Geschwindigkeit des Artensterbens in Österreich. Wenn sich nichts ändert, werden viele Arten sowie wichtige Ökosysteme bereits in den nächsten Jahrzehnten verschwunden sein – teilweise noch, bevor wir sie überhaupt erforschen konnten“, warnt der Ökologe und Biodiversitätsforscher Franz Essl von der Universität Wien. Er ist einer der Wissenschaftler österreichischer Universitäten, der sich zusammen mit anderen Experten zu einem Biodiversitätsrat zusammengeschlossen hat. In der Schweiz ist man schon einen Schritt weiter. Als eines der Staatsziele in der Verfassung festgeschrieben wurde der nachhaltige Umgang mit der Ressource Boden.

Die Auswirkungen von Versiegelung sind selten sofort erkennbar, lassen sie sich jedoch nur schwer wieder rückgängig machen, wenn sie einmal aufgetreten sind. Damit einher geht eine Störung des Wasserhaushalts des Bodens. Regenwasser kann nicht mehr sofort abfließen und versickern. Im Fall von Starkregen zeigen sich besonders deutlich die Folgen, wenn es zu massiven Überschwemmungen kommt. Außerdem heizen sich versiegelte Böden bei einer Hitzeperiode stark auf. Versiegelte Flächen sind für Pflanzen ein für alle Mal verloren. Auch sind die natürliche Bodenfruchtbarkeit massiv geschädigt und die Bodenstruktur gestört. Die Baubranche muss sich auf den Klimawandel und die bereits heute spürbaren Folgen wie überhitzte Innenstädte, überflutete Straßen und überlastete Abwassersysteme einstellen. Neue Bauverfahren, neue Baustoffe und verbesserte Leitungsnetzwerke sind darum das Gebot der Stunde, um Treibhausgasemissionen zu reduzieren und Ressourcen zu schonen.

Deswegen sieht das deutsche Bundesnaturschutzgesetz auch vor, den Flächenverbrauch einzudämmen. Allerdings werden Ausgleichsflächen nicht, so wie es erforderlich wäre, umgesetzt. Professor Albert Reif, Jessica Rabenschlag, Nicolas Schoof und Jochen Schumacher von der Professur für Standorts- und Vegetationskunde der Universität Freiburg haben am Beispiel von neun Gemeinden in Südbaden untersucht, ob jene diese Ausgleichsverpflichtungen realisieren. Das Ergebnis: Nur in etwa 70 Prozent der Fälle kommen die Kommunen dem bestehenden Recht nach. Zudem fanden sie heraus, dass die Verantwortlichen nur in ganz wenigen Fällen übergeordnete, naturschutzfachliche Qualitätsziele, die mehrheitlich ebenfalls rechtlich zwingend erforderlich sind, effektiv erfüllten. Für ihre Studie überprüften die Forschenden, welche baurechtlichen Ausgleichsmaßnahmen in den Jahren 2007 bis 2017 erfolgreich umgesetzt wurden, und bewerteten diese mit Blick auf den Naturschutz. Für ihre Studie analysierten sie insgesamt 124 verschiedene, voneinander abgrenzbare Einzelmaßnahmen – diese sind allesamt Bestandteil von 14 Bebauungsplänen von neun Gemeinden im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald jeweils mit Gemarkungsanteilen am Schönberg. Der Schönberg, eine Erhebung der Vorbergzone des Schwarzwalds, habe eine hohe naturschutzfachliche Bedeutung, so die Forschenden, die durch die Ausgleichsmaßnahmen eigentlich geschützt werden sollte.

„Die Umwandlungen von Nicht-Siedlungs- und -Verkehrsflächen in neue Siedlungs- und Verkehrsflächen sind eine wesentliche Ursache für den Verlust an Biodiversität“

„Die Umwandlungen von Nicht-Siedlungs- und -Verkehrsflächen in neue Siedlungs- und Verkehrsflächen sind eine wesentliche Ursache für den Verlust an Biodiversität“, erklären die Freiburger Wissenschaftler. Die unvollständig umgesetzte Gesetzeslage füge sich in ein gesamtdeutsches Bild. Das Fallbeispiel zeige, so das Team, dass Verantwortliche die Ausgleichsverpflichtungen nur mangelhaft realisieren: „Dies ist ein weiteres Indiz dafür, dass die Eingriffs- Ausgleichsregelung in Deutschland häufig nicht die juristischen und naturschutzfachlichen Anforderungen erfüllt, weil die Verursacher des Baueingriffs ihr nicht adäquat nachkommen.“ Die Forscher nennen mehrere Verbesserungsvorschläge für die aktuelle Gesetzeslage: So sollten zum Beispiel alle Planungen und Ergebnisse des Ausgleichsverfahrens auf einer zentralen Plattform in Bürgersprache besser zugänglich sein. Umgehend müsste begonnen werden, regelmäßig zu überprüfen, ob die Ausgleichsverpflichtungen korrekt umgesetzt sind, denn bisher fehle jegliche Kontrollinstanz. Zudem sollten die politischen Entscheidungsträger das neue, sogenannte „beschleunigte Verfahren“ bei Baumaßnahmen, bei dem es keine Ausgleichverpflichtungen gibt, seltener anwenden: „Durch diese neue Regelung wurde die Flächenmobilisierung der Kommunen zwar erheblich erleichtert, eine solche Aufweichung der Eingriffs-Ausgleichsregelung geht aus Sicht des Ressourcenschutzes und zukünftiger Generationen aber in die absolut falsche Richtung.“ Denn nach neueren Erkenntnissen finde diese erleichterte Flächenmobilisierung auch nicht primär in Ballungsgebieten mit Wohnungsnot statt, sondern begünstigt mehrheitlich Einzelhäuser-Siedlungen in dörflichen Strukturen.

Eine weitere Möglichkeit, sorgsamer mit Flächen umzugehen, ist es, Brachflächen in Betracht zu ziehen. Auch das Thema Nachverdichtung in den Innenstädten muss nach Meinung von Experten stärker vorangetrieben werden. 2,3 bis 2,7 Millionen Wohnungen könnten in Deutschland neu entstehen, ohne zusätzliche Flächen versiegeln und teures Bauland in die Erstellungskosten einkalkulieren zu müssen. Dazu müssten aber die vorhandenen innerstädtischen Bau-Potenziale viel konsequenter genutzt werden. Zu diesem Ergebnis kommt die „Deutschland-Studie 2019“ der TU Darmstadt und des Pestel-Instituts. „Büro- und Geschäftshäuser sowie eingeschossige Discounter mit ihren Parkplätzen bieten ein enormes Potenzial für zusätzliche Wohnungen – durch Nachverdichtung wie Aufstocken, Umnutzung und Bebauung von Fehlflächen. Zusätzlich lässt sich eine Auswahl an öffentlichen Verwaltungsgebäuden für neuen bezahlbaren Wohnraum nutzen“, so Professor Karsten Tichelmann von der TU Darmstadt. Ressourcen für durchaus attraktiven Wohnraum bieten insbesondere auch innerstädtische Parkhäuser. Durch die sich verändernde Mobilität ergeben sich künftig weitere Potenziale wie vorhandene Tankstellen- und Parkplatzflächen. Außerdem plädieren die Wissenschaftler weiterhin für eine Offensive bei der Dachaufstockung von Wohngebäuden, deren großes Potenzial bei 1,1 bis 1,5 Millionen Wohneinheiten liegen soll. Allein in Berlin könnten 330 eingeschossige Lebensmittelmärkte zur Aufstockung genutzt werden, heißt es in der Studie.

Doch ist es nicht Aufgabe der Politik allein, etwas daran zu ändern, geht es nach Michael Scheffler. Seit vielen Jahren ist er als Planer, Gutachter und Dozent tätig und Autor von Fachbüchern, wie „Moralische Verantwortung von Bauingenieuren“, das 2019 im Springer Verlag erschienen ist. Darin setzt er sich mit den generationenübergreifenden und ökologischen Auswirkungen auf die Natur durch das Bauen auseinander. „Schien die Aufnahmekapazität von Wasser, Luft und Boden für Schadstoffe und Abfälle aller Art anfangs noch unbegrenzt, müssen wir uns jetzt eingestehen, dass wir es mit dem ebenso hoffnungsfrohen wie sorglosen Glauben an Fortschritt durch Technik wohl zu weit getrieben haben“, resümiert Michael Scheffler. An ungezählten Bürgerinitiativen und Widerständen sei heute ablesbar, dass viele Menschen im technischen Fortschritt immer mehr Naturbedrohung und auch Fremdbestimmung sehen. Angesichts des hohen Fortschrittstempos und Produktangebots Begrenzungsfragen zu stellen, ist aber noch nicht konsequent im Bewusstsein der Ingenieure manifestiert. Dabei steht nach Meinung von Scheffler fest, dass technischer Fortschritt ins Unendliche prinzipiell ausgeschlossen ist. Daher werde auch das Bauen zunehmend besorgt kommentiert. Im Buch erörtert Michael Scheffler Grundsatzfragen des Handelns im Alltag von Bauingenieuren, diskutiert bestehende Störungen und Problemstellungen und zeigt vordringlichen Handlungsbedarf auf. Das Buch ist nicht als Technikfeindlichkeit zu verstehen, so der Autor: „Ziel ist vielmehr, das Thema der Übernahme moralischer Verantwortung von Bauingenieuren wieder aufzunehmen, mit neuem Elan voranzutreiben und in seiner Bedeutung zu heben – in Ergänzung zum weiterhin wichtigen technischen Fortschritt.“

November/Dezember 2019