Gebäude als Rohstofflager

Mit Cradle to Cradle gegen Ressourcenverschwendung in der Baubranche

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Einen schier unstillbaren Hunger nach Rohstoffen hat die Baubranche. Die Vereinten Nationen schätzen, dass alleine auf ihr Konto 50 Prozent des Rohstoffverbrauchs in Europa zurückgehen. Laut Statistischem Bundesamt verursacht sie rund 60 Prozent des Abfalls. Die Aufnahmekapazitäten von Deponien sind folglich vielerorts am Limit. Mit der geplanten Einführung der Mantelverordnung droht sich die Situation weiter zuzuspitzen. Die bislang vorbildlichen Verwertungsquoten von Bauschutt und Straßenaufbruch sind in Gefahr. Sparsam mit Ressourcen umzugehen, wird in Zukunft das Gebot der Stunde. Ein neuer Ansatz und Gegenentwurf zur Wegwerfgesellschaft ist auf dem Vormarsch: Cradle to Cradle.

Das nachhaltige Konzept geht auf den Chemiker und heutigen Gründer des Forschungsinstituts EPEA, Professor Michael Braungart, und den Architekten, William McDonough, zurück. „Einfach intelligent produzieren“ – lautete der Titel ihres vielbeachteten Fachbuchs, indem sie erstmals 2002 forderten, Produkte so herzustellen, dass sie Verschwendung und Abfall von Materialien vermeiden und nicht mit einem großen Energieeinsatz am Ende ihres Lebenszyklus in der Müllverbrennung entsorgt werden. Sinnbildlich heißt das Prinzip Cradle to Cradle nicht mehr von der Wiege zur Bahre, sondern von der Wiege zur Wiege. Auf die Bauwirtschaft übertragen: Rohstoffe nicht mehr nur zu gewinnen, zu verbauen und sie später auf der Deponie zu entsorgen, wenn Gebäude rückgebaut werden.

Die Idee, die dahinter steckt: die verwendeten Ressourcen in gleichbleibender Güte immer wieder aufzubereiten, einzusetzen und so im Umlauf zu halten. So wie biologische Kreisläufe in der Natur in sich geschlossen sind, sollen auch Produktions- und Materialkreisläufe kontinuierlich zirkulieren. Recycling alleine reicht nicht – denn dabei erfahren Produkte in der Regel ein Downcycling. Recyceltes Papier etwa kann hinsichtlich seiner Qualität nicht mit neuem Papier mithalten, weil durch die Aufbereitung die einzelnen Papierfasern verkürzt werden. Oder ein anderes Beispiel: Kunststoffe, die nach dem Recycling nur noch für weniger qualitativ Hochwertiges zu gebrauchen sind. Cradle to Cradle geht weiter und impliziert eine stoffliche Aufwertung in Form von Upcycling. Noch lasse sich das Prinzip nur schwer auf die Praxis übertragen, bemängeln Kritiker. Und tatsächlich scheint eine flächendeckende Umsetzung auf den ersten Blick unrealistisch. Für die Baupraxis aber liefert das Prinzip einen Denkansatz, um Produkte und Technologien sowie Gebäude möglichst ressourcenschonend zu entwickeln. Damit die Stoffe, die in einem Gebäude stecken, jedoch später wieder verwendet werden können, muss bei Planung und Bau einiges berücksichtigt werden. Tabu sind beispielsweise Schadstoffe wie Aldehyde oder Lösungsmittel wie aromatische Kohlenwasserstoffe sowie Weichmacher. Grundvoraussetzung ist, dass sich die eingesetzten Materialien leicht demontieren und sortenrein trennen lassen – hier hinkt die Baupraxis hinterher, weil Sandwichmaterialien oder Verbundbaustoffe weit verbreitet sind. So werden etwa Fassaden massiv gedämmt mit der Folge, dass eine Vielzahl von Stoffen so fest miteinander verbunden sind, sodass eine anschließende Aufbereitung ausscheidet. Dabei gäbe es heute bereits Alternativen in Form von demontierbaren Vorhang- und Elementfassaden. Nur müssten sie sich durchsetzen.

Das EU-Forschungsprojekt „Buildings as Material Banks“ will darum den Materialeinsatz vorantreiben, der die Voraussetzungen für Wiederverwertbarkeit erfüllt. Unternehmen, Forschungsinstitute und Universitäten sollen in den nächsten Jahren einen Materialpass für Neu- und Umbauten erarbeiten, der auf einer BIMfähigen Systematik und Datenbank aufgebaut ist. Mit dem Materialpass soll kein Abfall mehr anfallen. Er soll dazu beitragen, bereits in der Planung wiederverwertbare Baustoffe zu integrieren, diese nach Abriss aufzubereiten und wieder in gleicher Güte zu verbauen. Der Materialpass schafft damit Transparenz, indem gleich dokumentiert wird, von welchem Hersteller das Produkt beziehungsweise der Rohstoff stammt, ob es frei von Schadstoffen ist und sich nachnutzen oder stofflich recyceln lässt. Damit werden Immobilien zu Wertstoffdepots und lassen sich im Betrieb flexibel um- und zurückbauen.

Dr. Peter Mösle, Partner bei Drees & Sommer und einer der deutschen Projektteilnehmer, ist sich sicher: „Grundsätzlich wird der Materialpass für Bauherren und Investoren wichtige Entscheidungsgrundlagen liefern. Schließlich können sie damit den voraussichtlichen Wertzuwachs zuverlässig kalkulieren.“ Die Stuttgarter Bau- und Immobilienexperten gehen davon aus, dass die Effekte von Cradle to Cradle vor allem bei Logistikimmobilien sichtbar werden. Bei einer üblichen Nutzungsdauer von rund 20 Jahren steige der Wert eines solchen Gebäudes um bis zu zehn Prozent. Da die gesamte Lieferkette im Materialpass einsehbar ist, werden neue Geschäftsmodelle entstehen, beispielsweise Leasingmodelle, glauben die Experten von Dress & Sommer. Davon auszugehen ist, dass dann alle gängigen Green-Building- Labels die Rezyklierbarkeit sowie die Schadstofffreiheit von Baumaterialen mit wertvollen Punkten belohnen. Der EU-weit einsetzbare Materialpass soll den Prozess vereinfachen und die Kreislaufwirtschaft voranbringen.

Erste Neubauobjekte gemäß Cradle to Cradle wurden bereits in Deutschland realisiert oder stehen kurz davor, wie etwa das neue Verwaltungsgebäude von RAGStiftung und RAG Aktiengesellschaft auf dem Welterbe Zollverein, das auf den Prinzipien der Wiederverwendung basieren soll. Der Neubau wird aus ortsbezogenen und schadstofffreien Materialien erstellt, die komplett recyclingfähig sind.

Bei der Planung stehen die Bedürfnisse der Nutzer im Mittelpunkt. Durch die einfache Konstruktion soll das Gebäude wandlungsfähig und flexibel bleiben. „Unser Campus wird ein Rohstofflager. Wir wissen von Anfang an genau, was wo verbaut werden wird. Das Gebäude wird auch ein Kraftwerk, mit dem Ziel „Energie Plus“. Und es wird ein Lebensraum mit gesunden, ästhetischen Stoffen und Materialien“, so Professor Hans-Peter Noll, CEO RAG Montan Immobilien, auf dem zweiten Cradle-to- Cradle-Forum, organisiert von Dress & Sommer letzten April. Das Unternehmen versteht sich als Impulsgeber: Flächenrecycling sei der erste Schritt zu nachhaltigem Handeln.

Ihrem Ruf verpflichtet, beherbergt das Ostufer des Magdeburger Hafens in der Hamburger HafenCity einen nachhaltigen Gebäudekomplex, in dem sich seit Kurzem folgerichtig die Deutschlandzentrale von Greenpeace eingemietet hat. Die Architektur besticht durch ökologische Qualität und einen jährlichen Primärenergiebedarf von deutlich unter hundert kWh/m2 sowie CO2-Emissionen von kaum mehr als 30 g/kWh. Dafür gab es das Deutsche Gütesiegel Nachhaltiges Bauen in Gold sowie das Umweltzeichen HafenCity in Gold. Hohe Umweltstandards spiegeln sich wider in dem Energiekonzept, das unter anderem auf einer Wärmeerzeugung durch Solar- und Geothermie sowie auf dem Dach installierten Windkraft- und Photovoltaikanlagen basiert. Zugleich wird der Nachhaltigkeitsgedanke auch im Innenbereich der nach einem Entwurf des Züricher Architekturbüros Bob Gysin + Partner realisierten Elbarkaden konsequent fortgeführt, etwa durch den Einsatz eines Bodenbelags aus Recyclingmaterial. Und auch das Mattensystem von Emco Bau, das im Eingangsbereich für einen wirkungsvollen Schmutzabrieb beim Begehen sorgt, ist vollständig wiederverwertbar.

Das besonders ressourcenschonende, entsprechend geprüfte und zertifizierte Produkt verfügt über einen geschlossenen technischen Materialkreislauf, der keinen Abfall entstehen lässt. Hierbei werden sämtliche Mattenbestandteile am Ende der Gebrauchsdauer rückstandsfrei recycelt und zu qualitativ gleichwertigen Produkten verarbeitet. Zu diesem Zweck kann die Eingangsmatte am Ende ihres Lebenszyklus kostenfrei zurückgegeben werden. Dass das Prinzip der Wiedergewinnung von Wertstoffen nicht nur reine Zukunftstheorie, sondern bei vielen Abbruchprojekten längst gängige Praxis ist, zeigt aktuell der selektive Rückbau dreier Hochhäuser in Marl. „Gehoben“ werden konnten aus den in den 60er-Jahren errichteten Gebäuden durch die Firma Freimuth Abbruch und Recycling neben Metallen und Beton insbesondere eine große Menge Bodenbelag und Fenster aus dem Werkstoff PVC. Alle Fraktionen eint eine zentrale Eigenschaft: ihre gute Wiederverwertbarkeit. So wird der wiedergewonnene Beton direkt vor Ort gebrochen und aufbereitet, um dann für die Verfüllung des Aushubs genutzt zu werden.

Die Metalle werden getrennt und bei Fachfirmen eingeschmolzen. Im Falle der etwa 20 Tonnen PVC-Bodenbeläge, die aus den insgesamt 138 Wohnungen entfernt wurden, ist dies die vor Ort in Marl ansässige Arbeitsgemeinschaft PVC-Bodenbelag Recycling (AgPR). Seit nunmehr 25 Jahren sammelt diese bundesweit und mittlerweile auch in einigen europäischen Nachbarländern gebrauchte PVC-Bodenbeläge, die in eigenen Anlagen werkstofflich recycelt werden. Gewonnen wird dabei als Produkt ein PVC-Feinmahlgut, das bei Eignung wieder zur Produktion von neuen PVC-Fußbodenbelägen verwendet wird. Auch aus den über 500 ausgedienten PVC-Fenstern der Gebäude ist mittlerweile neuer Rohstoff entstanden. Verantwortlich hierfür ist das Unternehmen Tönsmeier Kunststoffe. In den Recyclinganlagen wird aus den alten Rahmen ein PVCMahlgut hergestellt, das als Ausgangsmaterial für fast hundert Prozent sortenreines Granulat verwendet wird. Es dient als qualitativ gleichwertiger Rohstoff für die Herstellung von neuen Fenster- und Bauprofilen. In ihnen ist der wiedergewonnene Rohstoff schließlich als Recyclingkern zu finden. „Jede Tonne PVC-Recyclat, das in der Profilherstellung zum Einsatz kommt, spart im Vergleich zu Primär-PVC rund 1,87 Tonnen CO2. Damit trägt unser Produkt neben der Ressourcenschonung auch deutlich zum Umweltschutz bei“, so Jörg Schiffner, der das Projekt für Tönsmeier in Marl betreut. Das Unternehmen ist einer der Recyclingpartner von Rewindo, die seit 2002 das Recycling alter Kunststofffenster, -rollladen und -türen bundesweit organisiert.

So konnten 2014 fast 1,5 Millionen alte Kunststofffenster wiederverwertet und dabei die Menge gegenüber 2013 noch einmal gesteigert werden. Um diese Menge weiterhin erhöhen zu können, setzt Geschäftsführer Michael Vetter auf die konsequente Umsetzung: „Wir sind davon überzeugt, dass Sekundärrohstoffen mit hoher Qualität eine immer bedeutendere Rolle für die Produktion zukommen wird. Eine noch engere Zusammenarbeit unter anderem mit der Abbruchbranche als unserem Rohstofflieferanten wird daher in der Zukunft ein immer wichtigerer Baustein für den Erfolg unserer PVC-Recyclingsysteme werden.“ Bau- und Immobilienexperten glauben, dass die Baubranche am meisten davon profitieren könnte, die Rohstoffe immer wieder in gleichwertiger Qualität für neue Produkte aufzubereiten.

Das kann beispielsweise Nico Lührs von der Firma Freimuth bestätigen, der neben dem Umweltaspekt auch weitere Anreize erkennt: „Der größtmöglichen und umweltgerechten Wiederverwertung der anfallenden Materialen gilt immer unser besonderes Augenmerk. Natürlich hat das auch fiskalische Gründe.“ Das Unternehmen Dress & Sommer glaubt: Die Immobilie werde somit zum Rohstofflager, dessen Wert kontinuierlich steige. Berechnungen von Drees & Sommer haben ergeben, dass Cradle to Cradle eine Wertsteigerung von bis zu zehn Prozent in Relation zu konventionellen Gebäuden ermöglichen kann. Auch andere Unternehmen versprechen sich durch Cradle to Cradle eine deutlich höhere Produktivität. McKinsey hat etwa in Zusammenarbeit mit der Allen MacArthur Foundation bereits 2014 ausgerechnet, was restaurative Kreisläufe an Einsparungen bringen: bis 2025 pro Jahr eine Billion US-Dollar.

November/Dezember 2015