Gegen Schmerzen an der Achillesferse

Es muss wohl richtig wehtun, bevor es wieder ein Stück weit besser wird. Erst machen Autobahnbrücken schlapp, dann offenbaren sich Chaos-Zustände bei der Bahn und nun sind die Flughäfen an der Reihe, die an der Reiselust der Deutschen kollabieren – und das ausgerechnet in der schönsten Zeit des Jahres, wenn sich alle voller Vorfreude auf den Weg in die Ferien machen. Wohin man schaut Verspätungen und Ausfälle – das mag manchen Geschäftsreisenden verleiten, doch lieber Gespräche per Teams am Bildschirm zu führen, anstatt am Flughafen zu stranden oder in einem restlos überfüllten Zug ohne funktionierende Klimaanlage mitten auf der Bahnstrecke verharren zu müssen. Die Infrastruktur ist die Achillesferse der deutschen Wirtschaft – sie wieder fit zu machen, wird zur Herkulesaufgabe werden. Denn es wird immer deutlicher, wie fatal es war, Straßen, Schienen und Brücken so herunterzuwirtschaften, dass nun ungeheure Anstrengungen unternommen werden müssen, um dem Verfall entgegenzusteuern und die Versäumnisse aufzuholen, die sich aufgestaut haben. Weil es brennt, erklärte Bundesverkehrsminister Volker Wissing die Generalsanierung des Schienennetzes deswegen zur Chefsache.

Besonders stark belastet sind zehn Prozent des 34 000 Kilometer langen Streckennetzes der Bahn

Viele Gleise, Weichen, Brücken und Stellwerke sind schlicht überaltert und deshalb stark störanfällig. Doch Bauen und zeitgleich den Betrieb aufrechtzuerhalten, als wäre nichts gewesen, funktioniert nicht. Deswegen drängen die Verantwortlichen zu einem Kurswechsel bei Bauvorhaben an der Schiene. Besonders stark belastet sind zehn Prozent des 34 000 Kilometer langen Streckennetzes der Bahn. Bis 2030 wird dieser Anteil vermutlich 9 000 Kilometer umfassen. Stark frequentierte Schienenstrecken sollen sich darum zu einem Hochleistungsnetz entwickeln, leistungsfähige Korridore aufgebaut und Baumaßnahmen gebündelt werden. Schwellen, Schotter, Gleise, Weichen, Stellwerke, Signale, Bahnsteige – was sonst pro Gewerk entsprechend dem Alter und Zustand angepackt wurde, sollen Baufirmen in einem Aufwasch erledigen und auf mehr Kapazität trimmen. Der Ansatz: Einen Streckenabschnitt nicht mehr in kurzen Abständen mehrfach sperren, sondern künftig auf ganzen Schienenkorridoren, hunderte Kilometer lang, komplett Tabula rasa machen – dann hat man dort die nächsten Jahre Ruhe. Das alles mögen wichtige Schritte sein, um das Netz zu stabilisieren. Doch ein schon heute überlastetes Schienennetz bleibt es – selbst mit besserer Baustellenplanung. Daher darf man gespannt sein, wie unsere Politik hier das Ruder rumreißen will – vor allem angesichts von Preissteigerungen, Materialengpässen und dem Fachkräftemangel, der immer weitere Kreise zieht.

Wer immer wieder darauf rumreitet, dass Gütertransporte von der Straße auf die Schiene gehören und dass Menschen für mehr Klimaschutz vom Flieger oder Auto auf die Bahn umsteigen sollten, muss dafür die Voraussetzungen für ein leistungsfähiges Schienensystem schaffen. Für den Tankrabatt werden Steuerzahler mit rund 3,15 Milliarden Euro belastet – für den Neu- und Ausbau des Schienennetzes stehen in diesem Jahr gerade einmal 1,9 Milliarden Euro zur Verfügung. Experten kritisieren schon lange die Unterfinanzierung und deren Folgen. Sicher scheint, dass Neubauprojekte angesichts der immensen Sanierungsaufgaben erst einmal zurückstehen. Doch wenn die Schiene aus der Sackgasse soll, müssen Bund und Länder die Mittel für die Infrastruktur auf hohem Niveau die nächsten Jahre verstetigen.

Die bisherigen Finanzierungsbedingungen zielen vor allem darauf ab, so kostengünstig wie möglich zu bauen. Potenziale für schnelleres und damit kundenfreundliches Bauen werden dabei nicht ausgeschöpft – auch das soll und muss sich in Zukunft ändern. Kundenfreundliches Bauen darf allerdings nicht bedeuten, dass Arbeiten vor allem in Randzeiten, also an Wochenenden, Feiertagen oder nachts, erfolgen – da die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten nicht überstrapaziert werden dürfen, schränkt der Hauptverband der Bauindustrie ein. Deshalb macht er sich stark für das Partnerschaftsmodell Schiene, um Planungs- und Bauzeiten weiter zu verkürzen und Projekte zu beschleunigen. Das mag ein Schlüssel sein, aber auch die im Koalitionsvertrag von den Regierungsparteien festgehaltenen Instrumente der Planungsbeschleunigung müssen in die Tat umgesetzt werden. Wir müssen bei den Planungsprozessen in den Turbogang schalten – so wie es sich für eine Wirtschaftsnation gehört. Statt Diskussionen in der Endlosschleife über das Für und Wider von Bauvorhaben, heißt es jetzt machen. Wir können es uns nicht leisten, Dauerbaustellen einzurichten, deren Planungen ein halbes Jahrhundert dauert. Wenn wir unsere Wirtschaft wirklich unterstützen wollen, müssen wir schlanker werden bei überbürokratisierten Antragsverfahren und Auflagen. Das erfordert einen radikalen Kurswechsel und ein rigoroses Umdenken. Ist Deutschland dafür wirklich bereit?

Juli/August 2022