Kulturwandel für die Bauindustrie

Wie rüstet sich die Bauindustrie für die Zukunft, die vor großen Herausforderungen steht? Den Schlüssel darin, schneller mehr Automatisierung beim Bauen zu erreichen und nachhaltiges Bauen zu fördern, sieht Dr. Moritz Püstow darin, die Grenzen von Planen und Bauen aufzuheben, mehr in Serie zu bauen, experimentelle Bauformen zuzulassen, Leistungen funktional auszuschreiben sowie Bauprozesse stärker zu digitalisieren. Der Fachanwalt für Vergaberecht und Partner bei der KPMG Law Rechtsanwaltsgesellschaft erklärt, was sich ändern muss, um die Bauindustrie zukunftssicher auszurichten.

Baublatt: Der Wohnungsbau steckt mitten in einer Krise. 400 000 Wohnungen pro Jahr waren das Ziel. Doch davon sind wir meilenweit weg. Was läuft hier schief?

Dr. Moritz Püstow: Im Allgemeinen gelten die hohen Kosten als Ursache aufgrund hoher Zinsen und gestiegener Baupreise. Das ist richtig, aber das darf keinen Stillstand bedeuten. Denn die Kosten lassen sich kaum beeinflussen. Daher müssen andere Schlüssel für eine Kostensenkung gesucht werden. Ein Hebel wäre etwa, die Entwicklung der Grundstückspreise einzudämmen. Ein anderer Ansatz wäre die Nachverdichtung des städtischen Raums, um Infrastrukturkosten zu begrenzen. Schließlich könnte der Staat auch durch mehr Förderungen, Steuererleichterungen und Deregulierungen im Bau die Kosten senken. Ein weiterer Punkt ist meiner Ansicht nach ganz entscheidend: Die Produktivität der Bauindustrie muss gesteigert werden. Es gibt kaum einen Sektor in Deutschland, bei dem diese sich so schwach entwickelt.

Dr. Moritz Püstow, Fachanwalt für Vergaberecht und Partner bei der KPMG Law Rechtsanwaltsgesellschaft. Foto: KPMG Law

Baublatt: Argumente, die ins Feld geführt werden, sind: Jedes Bauprojekt ist ein Unikat, jede Bauaufgabe ist anders und die Bedingungen auf der Baustelle wechseln. Was hindert Baufirmen daran, Prozesse weiter zu standardisieren?

Dr. Moritz Püstow: Eine wichtige Frage ist, ob wir so viele Unikate brauchen. Grundsätzlich wäre die Digitalisierung viel stärker für Standardisierung einzusetzen. Ein Schlüssel hierfür wäre die Nutzung von BIM. Building Information Modeling ist immer noch nicht stark verbreitet. Auch nicht bei den Bauherren. Eine zweite Ursache ist, dass serielles und modulares Bauen viel zu wenig eingesetzt werden. Der wesentliche Grund besteht darin, dass Planen und Bauen als zwei verschiedene Disziplinen betrachtet werden. Im Ergebnis können die Bauunternehmen nur das liefern, was der Planer vorgibt, ihre eigene Innovation wird gar nicht gefragt. Es gibt kaum einen Industriezweig in Deutschland, bei dem das konzeptionelle und realisierende Denken und Handeln so getrennt betrachtet werden. Wir müssen, um die Produktivität stärker zu erhöhen, Bauleistungen viel stärker funktional ausschreiben und Planer und Bauunternehmen zusammenbringen.

Baublatt: Da ist aber auch der Gesetzgeber mehr gefordert, sich zu bewegen. Wir haben 16 verschiedene Bauordnungen. Bauunternehmen beklagen zunehmend die schlechten Wirtschaftsbedingungen am Standort Deutschland, die Investitionen verhindern, und machen die Politik dafür verantwortlich. Welche Rolle spielen Gesetze und Vorschriften, die für immer mehr Bürokratie und Regulierung sorgen und das Bauen ausbremsen?

Dr. Moritz Püstow: Die Baukostensenkungskommission beschäftigt sich seit 2015 mit der Frage, was zu Mehrkosten am Bau führt. Treiber sind etwa Energieeinsparung, Barrierefreiheit, Schall- und Brandschutz. Wir brauchen definitiv eine Deregulierung auf der Ebene der Landesbauordnungen. Es sind Vorschläge nötig, die Verordnungen für die Planer und die Bauindustrie zu vereinfachen sowie zu harmonisieren. Man muss aber die Bauordnungen auch mal grundsätzlich anpacken und betrachten, inwieweit man sich davon lösen kann, dass mangelfrei nur derjenige plant und baut, der die anerkannten Regeln der Technik umsetzt. Wir brauchen Lösungen dafür, dass experimentellere Bauformen ermöglicht werden, so wie es in Baden-Württemberg und Bayern beispielsweise praktiziert wird durch die Zulassung des Gebäudetyps E. Das ist meiner Meinung nach genau der richtige Weg. Insbesondere wenn wir nachhaltiger bauen wollen, brauchen wir Innovation und eine andere Einstellung. Doch gemäß heutigem Baurecht ist es so: Wer von dem etablierten Standard abweicht, plant oder baut fehlerhaft.

Baublatt: Was muss sich ändern, damit die Transformation hier gelingt, und wo hat Deutschland hier noch besonders großen Aufholbedarf?

Dr. Moritz Püstow: Wir müssen in Deutschland über die Art und Weise des Bauens nachdenken. Kernelement der Schwäche unseres Marktes ist meines Erachtens, dass die Disziplinen Planen und Bauen getrennt und unabhängig voneinander agieren. Das führt zu Ineffizienz und behindert die Entwicklung von neuen Lösungen und Standards. Wir müssen viel kooperativere Formen der Zusammenarbeit entwickeln. Meiner Meinung nach sollte sich die Bauindustrie auch viel stärker als Systemhersteller platzieren, um eigene Lösungen anzustoßen. Die Voraussetzung dafür ist allerdings auch, dass diese Lösungen dann auch abgefragt werden. Das fordert wiederum Planer und Auftraggeber entsprechend heraus. Hier ist ein grundlegender Kurswechsel angesagt.

Baublatt: An welchen Stellschrauben müsste mehr gedreht werden, damit der Bau- und Immobiliensektor eine bessere CO2-Bilanz schneller erreicht?

Dr. Moritz Püstow: Auch hier gibt es viel zu tun: 38 Prozent aller CO2-Emissionen resultieren aus dem Gebäude, 75 Prozent davon aus dem Betrieb. Es ist davon auszugehen, dass die Bedeutung der betrieblichen Emissionen massiv zurückgehen wird, weil wir zunehmend erneuerbare Energien einsetzen. Wir müssen den Blick daher künftig stärker auf die Baukonstruktion und die Materialien richten. Beton verursacht acht Prozent und Stahl zehn Prozent der weltweiten CO2-Emissionen – an diesem Hebel muss gedreht werden. Die wesentliche Frage wird sein, wie man durch intelligente Konstruktion weniger Material benötigt und wie man andere, sprich CO2-ärmere Materialien einsetzen kann. Beton, Stahl und Asphalt werden aber bleiben, und daher geht es auch darum, CO2-arme Materialproduktionen zu erproben. Hier ist die Bauindustrie extrem gefordert, sich mit ihrer Lieferkette auseinanderzusetzen.

Baublatt: Was ist erforderlich, Nachhaltigkeit und damit den CO2-Fußabdruck eines Gebäudes oder von Baustoffen sowie von Bauweisen ehrlich zu bewerten?

Dr. Moritz Püstow: Schlüssel ist die Erstellung einer Ökobilanz. Sie schafft hohe Transparenz und zeigt die Klimafolgen über den Lebenszyklus. Eine Ökobilanz ist kein Hexenwerk, sondern wird nach der EU-Gebäuderichtlinie ab 2028 Standard für Neubauten. In Zukunft ist es also verpflichtend, bei der Planung neuer Gebäude das Treibhauspotenzial im gesamten Lebenszyklus zu betrachten. Zu berücksichtigen sind dann die CO2-Emissionen bei der Produktion von Baumaterialen, beim Materialtransport und auf der Baustelle. Auch der Energie- und Materialverbrauch in der Nutzungsphase wird betrachtet. Schließlich fließt auch die Entsorgung beziehungsweise Wiederverwendbarkeit der Baustoffe am Ende des Lebenszyklus in die Betrachtung des Treibhauspotenzials ein. Dieser ganzheitliche Blick fördert im Ergebnis den Einsatz energieeffizienter Technologien und Maschinen, die Nutzung recyclingfähiger Materialien mit geringem CO2-Fußabdruck sowie Maßnahmen zur Energieeinsparung durch eine effiziente Gebäudegestaltung. Für die Ökobilanz braucht es Daten, um beispielsweise den ökologischen Fußabdruck der Baustoffe bewerten zu können. Die Daten liegen für den Hochbau in der Datenbank Ökobaudat in großem Umfang vor. Die Erstellung einer Ökobilanz ist heute daher kein wirkliches Problem. Das sagen auch Planer, die sich mit Ökobilanzierung beschäftigt haben.

Baublatt: Wenn es kein Problem ist, warum geht es dann nicht schneller voran?

Dr. Moritz Püstow: Ich glaube, es hat viel mit Unwissenheit zu tun. Viele Bauherren, Planer und Bauunternehmen durchdringen die Thematik noch nicht in der ganzen Dimension. Auftraggeber haben Klimaschutz darüber hinaus regelmäßig gar nicht als Planungs- und Realisierungsziel definiert und wissen auch nicht, an welchen Kriterien sie nachhaltiges Bauen festmachen wollen. Als eine Folge werden regelmäßig keine Planungsalternativen zur Reduktion von Treibhausgasen entwickelt. Es fehlt auch an Kreativität, um die vorhandenen Spielräume vollumfassend zu nutzen. Aktuell begnügt man sich regelmäßig mit der Zertifizierung von Immobilien, etwa nach BNB- oder DGNB-Standards. Es ist gut, dass es diese Standards gibt, aber sie schaffen keinen Anreiz, den Wettbewerb für die Suche nach Klimaverträglichkeit zu nutzen. Die Höhe des CO2-Fußabdrucks etwa wird für ein BNB-Zertifikat mit weniger als vier Prozent gewichtet, das hat gar keinen Steuerungseffekt. Wir brauchen daher eine stärkere Fokussierung auf die zentralen Themen.

Baublatt: Aktuell ist der Preis das entscheidende Kriterium bei Ausschreibungen der öffentlichen Hand. CO2-Vorgaben finden sich kaum. Müssten wir in Zukunft CO2-Einsparungen als Ausschreibungskriterium mit aufnehmen, wenn sich langfristig was ändern soll?

Dr. Moritz Püstow: Bundesrechnungshof und Europäischer Rechnungshof kritisieren die öffentlichen Auftraggeber dafür, dass sie Aufträge nur nach dem Preis ausschreiben. Auftraggeber unterliegen hier einem groben Missverständnis. Denn die günstigste Lösung ist regelmäßig nicht die wirtschaftlichste. Meiner Meinung nach handelt der Staat mit dem Fokus auf Preiswettbewerb an vielen Stellen rechtswidrig. Die öffentliche Hand ist verfassungsrechtlich verpflichtet, CO2 einzusparen. Der Bund hat das Klimaschutzgesetz verabschiedet und im Paragraf 13 definiert, dass alle öffentlichen Auftraggeber sich bei der Beschaffung damit auseinandersetzen müssen, welche Alternativen zur Reduktion der Treibhausgasemissionen bestehen. Das macht nach meiner Erfahrung aber fast kein Auftraggeber. Für den Bund und seine Unternehmen regelt die Allgemeine Verwaltungsvorschrift Klima, wie Nachhaltigkeit bei der Angebotswertung zu berücksichtigen ist. Paragraf 4 besagt, dass neben den Investitionskosten auch die Klimafolgekosten in der Angebotswertung über einen Schattenpreis zu berücksichtigen sind. Mir sind nur zwei Ausschreibungen in Deutschland bekannt, die diese interne Regel umsetzen. Das ist eigentlich ein Skandal.

Baublatt: Was haben Baufirmen selbst in der Hand, um hier mehr zu unternehmen?

Dr. Moritz Püstow: Sie müssen sich mit ihren Lieferanten und mit den Baumaterialien auseinandersetzen. Die Kernfragen sind: Wie nachhaltig produzieren sie und welchen ökologischen Fußabdruck hinterlassen ihre Produkte? In den Fokus rückt sicherlich auch der Fuhrpark. Norwegen geht hier mit großen Schritten voran: Dort ist der Einsatz von emissionsarmen Maschinen ein Zuschlagskriterium. Wir erwarten, dass dies auch in Deutschland kommt, wobei die Emissionen von Transport- und Baumaschinen wirklich eigentlich nur im Infrastrukturbau relevant sind. Natürlich müssen Bauunternehmen auch die Kreislaufwirtschaft in den Blick nehmen und an der Wiederverwendung und Recyclingfähigkeit von Baustoffen arbeiten. Insgesamt haben Bauunternehmen es in der Hand, eine Schlüsselrolle einzunehmen für mehr Nachhaltigkeit. Denn es kann auch nur das nachhaltig betrieben werden, was nachhaltig gebaut wird. Bauunternehmen sind daher gefordert, selbst Innovationen voranzutreiben und planerische Lösungen zu entwickeln.

Baublatt: Nachhaltigkeit zieht Investitionen nach sich. Heißt nachhaltiger bauen, dass damit das Bauen nicht auch automatisch teurer wird? Wo könnte man die zusätzlichen Kosten dafür kompensieren?

Dr. Moritz Püstow: Es ist mit höheren Investitionskosten zu rechnen. Der Bundesrechnungshof hat klargestellt, dass für die Investitionsentscheidung die Lebenszykluskosten und dabei auch die Klimafolgekosten zu berücksichtigen sind. Die Kosten des Klimawandels schätzt das Umweltbundesamt bis zum Jahr 2050 auf 280 bis 900 Milliarden Euro. Durch das Hochwasser haben wir die Gefahren und Kosten in Deutschland gerade wieder zu spüren bekommen. Das Umweltbundesamt hat auch errechnet, was eine Tonne CO2 volkswirtschaftlich kostet: 237 Euro diskontiert, nominal sind es 809 Euro. Die Kosten sind also bekannt und damit lässt sich sowohl in der Planung als auch in der Ausschreibung von Bauleistungen einfach arbeiten. Betrachtet man beispielsweise verschiedene Angebote für den Bau eines Bürogebäudes, sollten die Angebote nicht nur nach ihrem Baupreis verglichen werden, sondern auch der jeweilige Schattenpreis der Klimafolgekosten für die Zwecke der Wertung addiert werden. Wir haben mal simuliert, zu welchen Mehrkosten dies führen könnte bei einem CO2-Schattenpreis von 237 Euro. In realistischen Szenarien könnte ein CO2-armes Bürogebäude dann etwa drei Prozent teurer sein in der Anschaffung. Das ist eine hinnehmbare Investition für den Klimaschutz.

Baublatt: Die Branche hat den Ruf, eher konservativ zu sein und wenig eigene Innovationen zu entwickeln. Bezogen auf die Struktur dominieren ein paar Großkonzerne und sonst vor allem KMU den Markt. Da kann man nicht unbedingt erwarten, dass ein Kleinbetrieb eine ganze Branche umkrempelt.

Dr. Moritz Püstow: Die Marktstruktur ist ein zentrales Argument dafür, Bauleistungen vor der Vergabe bis ins Detail zu planen. Ich habe bereits dargestellt, dass dieses Modell es verhindert, dass Bauunternehmen Innovationen schaffen und ihre Produktivität steigern können. Das muss sich ändern und geht nicht zulasten von KMU. In Baden-Württemberg beispielsweise hat die Architektenkammer Partnerschaftsmodelle angeregt, in denen sich Planer und mittelständische Bauunternehmen nach der Vergabe an einem Tisch zusammensetzen und gemeinsam Lösungen für die Bauaufgabe des Bauherren im Dialog miteinander konkretisieren. In diesem Modell können Bauunternehmen Innovationen einbringen und liefern nicht nur das, was bestellt wurde. Diese Modelle sind vergabefähig und rechtlich zulässig. Das bestätigen verschiedene Gutachten zu Allianzmodellen oder zum Zwei-Phasen-Modell. So könnte ein echter Kulturwandel gelingen.

Baublatt: Sie denken hier an neue Geschäftsmodelle oder neue Märkte.

Dr. Moritz Püstow: Dass es Potenzial für neue Lösungen gibt, zeigen ja gerade mittelständische Bauunternehmen, die Lösungen im seriellen oder modularen Bauen entwickelt und hierfür eine Nachfrage geschaffen haben. Es ist eine staatliche Aufgabe, Beschaffungsmodelle zu nutzen, die es erlauben, dass der Markt sein Innovationspotenzial entfalten kann.

Baubatt: Also muss der Staat doch eingreifen, um nachhaltiges, effizientes und innovatives Bauen zu stimulieren?

Dr. Moritz Püstow: Ja, ich meine damit aber keine finanzielle Förderung. Der Staat muss durch seine Vergabepraxis eine Nachfrage nach Innovationen schaffen. Er muss die Potenziale des Wettbewerbs nutzen. Hier müssten endlich Taten folgen.

August 2024