Gelebte Vielfalt

Noch bevor der brutale Krieg auf die Ukraine losbrach, war dieses Statement zu Vielfalt geschrieben. Angesichts der furchtbaren Ereignisse stellte sich schnell die Frage, ob sich das nicht erledigt hatte, weil es aktuell weitaus wichtigere Probleme gibt, als im Zuge von Diversity über die Bedeutung von Gendersternchen zu diskutieren. Doch im Kern geht es bei allem Hin und Her um genau das: um Toleranz, Achtung und Respekt gegenüber unseren Mitmenschen. Der Krieg ist nicht nur ein Angriff auf die Demokratie, sondern auch auf Werte wie diese.

Vielfalt, und zwar in allen Dimensionen – ob von Herkunft, Religion und kultureller Prägung, Geschlecht und Alter oder sexueller Identität – bringt Vorteile. Foto: Zeppelin

Erwiesenermaßen bringt Vielfalt, und zwar in allen Dimensionen – ob von Herkunft, Religion und kultureller Prägung, Geschlecht und Alter oder sexueller Identität – Vorteile. Je unterschiedlicher sich ein Team in einem Unternehmen zusammensetzt und je verschiedener die Persönlichkeiten und Lebensstile, desto größer die Bereicherung und desto produktiver, innovativer und kreativer ist das Ergebnis, lautet der Ansatz. Dass Vielfalt an Kenntnissen, Sichtweisen und Einstellungen schon seit Jahren auf dem Bau tagtäglich gelebt wird, dafür braucht es keine neue Wortwahl wie Diversity. Bauunternehmen machen darüber kein großes Aufheben, sondern setzen es einfach um. Sie wissen: Wer die Ressource Vielfalt nicht fördert, wird aufgrund der immer größer werdenden Personalengpässe beim Halten und Rekrutieren von Fachkräften das Nachsehen haben. Und hier kann sich nur ein Erfolg einstellen, wenn erfahrene Spezialisten den Berufsanfängern zur Seite stehen und Azubis intensiv in neue Aufgaben oder in den Umgang mit Baumaschinen und Baumaterialen einarbeiten, damit sie wichtige Erfahrungen gewinnen und die individuellen Fertigkeiten verbessern können.

Weil auf Baustellen unterschiedliche Kenntnisse und Fähigkeiten seit jeher gefragt sind, wird auf Herkunft oder Religion nicht groß herumgeritten, sondern sie werden angenommen. Der Bau ist international. Ohne Personal aus dem Ausland gäbe es ohnehin viel Stillstand. Darum ist vielen Bauunternehmern längst klar, dass sie die große Zahl an Aufträgen allein mit heimischen Fachkräften nicht stemmen können und rekrutieren ihre Mitarbeiter von auswärts. Schon heute kommen zwischen 60 000 und 80 000 Entsendearbeitnehmer nach Deutschland, um auf Baustellen mitzuhelfen – dank der 2016 in Kraft getretenen Westbalkanregelung ist es Menschen zum Beispiel aus Serbien, Montenegro oder Albanien möglich, für die Erwerbstätigkeit nach Deutschland einzureisen. Dass sie dann auf unseren Baustellen wie jeder andere auch Respekt, Wertschätzung und eine angemessene Bezahlung entsprechend ihren Fähigkeiten verdienen, sollte selbstverständlich sein.

Ausbaufähig ist dagegen noch der Anteil der weiblichen Beschäftigten – und das trotz steigender Emanzipation und den Bemühungen um Gleichberechtigung zum Trotz. Die Branche verzeichnet hier nur winzige Fortschritte, doch dürfen es gerne noch mehr werden: Firmen, die Frauen eine Chance geben, und Frauen, die sich einen Bauberuf, abseits des klassischen Büros, auch zutrauen. Rufe nach einer Frauenquote sorgen dagegen für Wirbel und Empörung. Denn zählen sollte die Leistung und nicht das Geschlecht – so das Argument. Und so sollte auch die erbrachte Leistung über Gehalt und Lohn entscheiden und nicht, ob den Job eine weibliche oder männliche Arbeitskraft stemmt.

Nicht weniger emotional aufgeladen ist die Gender-Debatte, die weit entfernt von der Realität im Baustellenalltag ist und bei vielen Bauunternehmern für Kopfschütteln sorgt. Dass sie der Sache mehr schaden, als Veränderung zu fördern, mag vielen nicht klar sein. Da täte manchmal ein unaufgeregter Umgang not. Und egal, wer welche Meinung vertritt: Bei allem Diskurs geht es immer um Wertschätzung und Offenheit gegenüber dem oder der anderen.

März/April 2022