Weniger Auflagen, Gesetze und Vorschriften

Wird Bauen noch bezahlbar sein? Diese Frage treibt die Bau- und Immobilienbranche um. Preistreiber wie Materialengpässe und gestiegene Energiepreise machen Baumaterial teuer. Vor allem stiegen die Preise für mineralische Baustoffe wie Zement, Kalk und gebrannterGips, Dachziegel, Frischbeton, Bausand und Mörtel laut Statistischem Bundesamt (Destatis) deutlich gegenüber dem ersten Halbjahr 2022. Das Paradoxe dabei: Deutschland braucht dringend bezahlbaren Wohnraum, doch stattdessen sind Bauvorhaben aufgrund der Kostenexplosion nach Jahren des Booms plötzlich rückläufig. Die Bau- und Immobilienbranche schlägt Alarm – die Rede ist bereits von einer Baukrise historischen Ausmaßes. Denn es kommt bereits zur Kurzarbeit. Und erste Pleiten sind da.

Von Januar bis August 2023 sank die Zahl der Baugenehmigungen für Wohnungen gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 28,3 Prozent. Dies entspricht nach Destatis einem Rückgang um 69 100 Wohnungen auf 175 500 Wohnungen. Das ifo-Institut macht Zinserhöhungen der Europäischen Zentralbank dafür verantwortlich, welche die Finanzierungskosten von Bauvorhaben nach oben treiben. „Viele Projekte sind wegen der höheren Zinsen und gestiegenen Baukosten nicht mehr wirtschaftlich umsetzbar. Die Wohnungen, die heute nicht begonnen werden, werden uns in zwei Jahren auf dem Mietmarkt fehlen. Das ifo-Geschäftsklima im Wohnungsbau notiert mittlerweile auf dem tiefsten Stand seit Beginn der Erhebung 1991 bei minus 54,8 Punkten“, so Klaus Wohlrabe, Leiter der ifo-Umfragen. Dabei war die Ampelregierung angetreten mit dem Ziel, 400 000 neue Wohnungen pro Jahr zu schaffen. Diese Vorgabe wurde bereits 2022 mit 295 000 Wohnungen nicht erfüllt und für 2023 dürfte es noch schwieriger werden. So könnte die Zahl der neu fertiggestellten Wohneinheiten in Mehr- und Einfamilienhäusern auf im schlechtesten Fall schätzungsweise 223 000 in diesem und nur noch 177 000 im kommenden Jahr sinken. Damit könnte 2024 fast wieder der historische Tiefststand von 2009 erreicht werden. Der mögliche Einbruch bei den Fertigstellungen würde einem Rückgang der realen Wohnungsbauinvestitionen um knapp 21 Milliarden Euro in diesem beziehungsweise gut 16 Milliarden Euro im kommenden Jahr entsprechen. So eine Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung. „Es fehlen schätzungsweise 700 000 Wohnungen. Was heute nicht geplant wird, wird in zwei Jahren auch nicht gebaut. Es reicht nicht, mit einem Maßnahmenkatalog Symptome zu lindern. Es muss operiert werden, sonst ist der Patient Wohnungsbau tot. Jetzt heißt es: Runter mit allen vermeidbaren Kosten“, appellierte Dirk Salewski, Präsident vom Bundesverband Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen. Nicht nur er befürchtet sozialen Sprengstoff, wenn nicht schnell bezahlbarer Wohnraum geschaffen wird, sondern auch der Zentrale Immobilien Ausschuss ZIA. Dazu ihr Präsident Dr. Andreas Mattner: „In ernsten Zeiten, in denen verstärkt Menschen in Deutschland Zuflucht suchen, ist ein Schub für bezahlbaren Wohnraum dringender denn je. Denn es geht auch um den Zusammenhalt in diesem Land.“

Bild: Pixabay

Klagen über einen Auftragsmangel in der Branche werden immer lauter, derzeit zeigen sich 46,6 Prozent der Firmen betroffen, nach 44,2 Prozent im August. „Das ist eine Verdreifachung innerhalb der letzten zwölf Monate. Die Entwicklung ist dramatisch“, ergänzt ifo-Experte Klaus Wohlrabe. Die negative Entwicklung schlägt sich bereits in den Insolvenzen nieder. So haben beispielsweise bereits 151 Baubetriebe laut dem Hessischen Statistischen Landesamt im ersten Halbjahr 2023 Zahlungsunfähigkeit angemeldet. Die Sorge vor weiteren Pleiten steigt. Die Bauunternehmen klagen über fehlende Aufträge, die zwar noch mit Kurzarbeit aufgefangen werden können, doch dies wird keine langfristige Lösung sein.

Wenn der Bau jetzt Personal verliert, gerät die Situation aus dem Ruder. Die Baubranche steht daher vor einer Zäsur. „Der Beschäftigungsabbau geht rasend schnell. Er läuft auf dem Bau sechs Mal schneller als der Personalaufbau. Geht der Bau jetzt in die Knie, dann dauert es also Jahrzehnte, bis er wieder auf die Beine kommt und das Niveau erreicht, das er bis heute mit Mühen aufgebaut hat: 920 000 Beschäftigte im Bauhauptgewerbe“, so Professor Dietmar Walberg, der mit Wissenschaftlern des schleswig-holsteinischen Wohnungs- und Bauforschungs-Instituts ARGE (Kiel) die Situation für den Wohnungsbau erforscht.

Erste Projektentwickler wie Centrum, Euroboden, Development Partner, Project-Gruppe und Gerchgroup meldeten bereits Insolvenz an. Experten schätzen, dass sich die Krise weiter ausdehnt und ein Drittel von ihnen erfasst. Als Ursache gelten zu teuer eingekaufte Grundstücke, geringes Eigenkapital und aktuell stark gesunkene Immobilienpreise. Die Frage ist nun, ob  der Wohnungsbaugipfel Ende September eine Trendwende einläuten konnte. „Es bleibt abzuwarten, ob die angekündigten Maßnahmen den Wohnungsbau beleben können. Die Rahmenbedingungen für den Neubau sind jedenfalls mehr als schwierig“, erklärt der ifo-Experte Klaus Wohlrabe. Noch ist eine Trendwende nicht in Sichtweite. Dazu Felix Pakleppa, Hauptgeschäftsführer Zentralverband Deutsches Baugewerbe: „Nach den letzten Meldungen zur Rekord-Stornierungswelle im Wohnungsbau sollte allen klar sein, dass die auf dem Wohnungsbaugipfel angekündigten Maßnahmen zügig umgesetzt werden müssen. Am wichtigsten ist jetzt, dass der EH-55-Standard für den Wohnungsbau auch gefördert wird, damit die Nachfrage in Gang kommt. Mit Blick auf den Wohnraummangel ist jedes gebaute EH-55-Haus besser als kein EH-40-Haus. Die ganze Branche hofft noch in diesem Jahr auf einen echten Baukrisengipfel, der seinen Namen auch verdient.“

Professor Werner Pauen von der International School of Management (ISM) am Campus München sieht die künftige energetische Ausstattung von Neubau- und Bestandsimmobilien als Einflussfaktoren für die jetzige Entwicklung in Deutschland: „Letztere kommen insbesondere in der EU-Taxonomie-Verordnung und der jüngst vom Bundesrat genehmigten zweiten Novelle des Gebäudeenergiegesetzes zum Ausdruck. Unter dem Begriff „sustainable finance“ werden auch deren künftige Auswirkungen auf die Finanzierbarkeit von Grundstücken und Gebäuden abzulesen sein. Zugespitzt gesagt: Die Finanzierbarkeit von Immobilien ohne die gesetzlich geforderten energetischen Standards dürfte schwieriger werden. Diese Immobilien werden in der Folge geringer nachgefragt, womit auch ein Rückgang der entsprechenden Immobilienwerte verbunden sein dürfte,“ so der Immobilienexperte. Objekte in schlechtem energetischen Zustand – und 74 Prozent des deutschen Wohngebäudebestands erfüllen- laut Schätzungen der dena nur Energieklasse D und schlechter – sind auf dem Immobilienmarkt inzwischen vom Schnäppchen zum Ladenhüter geworden, da Kaufinteressenten vor den mitunter kaum seriös abschätzbaren Investitionskosten in Heizung und Gebäudedämmung zurückschrecken. Marktbeobachter rechnen daher mit einem rapide steigenden Wertverlust im deutschen Immobilienbestand, so Marktforscher von Bauinfoconsult.

In einem Punkt sind sich Bauexperten einig, dass unnötig hohe, vor allem technische Standards überdacht werden müssen, um Kosten zu senken, Ressourcen zu schonen und damit CO2-mindernd zu bauen. Georg Schareck, Hauptgeschäftsführer von Die Bauwirtschaft im Norden, betont: „Wir müssen von den hohen Standards abrücken, die rund 3 300 Bauvorschriften ausdünnen und das rechtlich fixieren, um Rechtssicherheit gegenüber dem Status quo zu schaffen.“ Doch das gestaltet sich nicht ganz so einfach. Denn noch verhindern veraltete allgemeine Regeln der Technik nachhaltiges Bauen. Der Verbandschef drängt zu einem flexibleren Werkvertragsrecht – allerdings nicht zulasten der Sicherheit. „Ziel muss es sein, das Bauen wieder auf die Kernanforderungen des Baurechts zu reduzieren. Das würde das Bauen vereinfachen und beschleunigen, Materialien bis zu 30 Prozent einsparen, die Kosten reduzieren und den CO2-Anteil verringern“, macht Georg Schareck deutlich. Hierfür bedürfe es grundlegender Änderungen im allgemeinen Baurecht, insbesondere Klarstellungen zur Anwendung für allgemeine Regeln der Technik. Diese Auffassung teilt auch Rechtsanwalt Michael Halstenberg von der VHV Hannover. Ihm zufolge werde es zunehmend offensichtlich, dass es einen Widerspruch in den etablierten Technikregeln gebe. Diese allgemein anerkannten Regeln leiteten sich traditionell aus der Erfahrung ab, wodurch sie nicht einfach aufgrund ihrer Existenz anerkannt seien, sondern sich über einen längeren Zeitraum in der Praxis bewähren müssten. Dies könne dazu führen, dass sie den Fortschritt neuer technischer Entwicklungen hemmten oder verhinderten, so der Experte.

Ein besonders großer Kostentreiber für Immobilien sind laut einer Studie des IW die sogenannten Stellplatzverordnungen. Sie verpflichten Bauherren, bei neuen Immobilien auch Plätze für Autos zu schaffen, egal, ob die Bewohner den Stellplatz brauchen oder nicht. Das treibt den Preis für Neubauwohnungen mit Tiefgarage um zehn Prozent nach oben. Die festen Stellplatzvorschriften machen das Bauen nicht nur teurer, komplizierter und aufwendiger, sie verschwenden zudem wertvollen Platz. „Die Kommunen müssen sich bei ihren Vorschriften an den tatsächlichen Bedürfnissen orientieren“, fordert IW-Ökonom Philipp Deschermeier. „Mit der starren Vorschriftenflut tut sich niemand einen Gefallen.“

Doch es fehlt an politischem Entscheidungswillen und Mut, das Problem an der Wurzel anzupacken. Thomas Reimann, Präsident des hessischen Baugewerbe-Verbands, betont die Notwendigkeit, den Bauprozess zu vereinfachen, um die Kosten langfristig zu senken: „Wir brauchen eine Reform, wir brauchen weniger Auflagen, weniger Gesetze, weniger Vorschriften. Das Rad müssen wir nicht neu erfinden: Schon der letzten Regierung lag der ausführliche Bericht der Baukostensenkungskommission mit pragmatischen Vorschlägen vor. Er wäre die Basis einer schnell umzusetzenden Baurechtsreform und ein wesentlicher Beitrag, das verlorene Vertrauen der Investoren wiederzugewinnen.“

November/Dezember 2023