10 Prozent sind Talent, 90 Prozent harte Arbeit

Er ist das, was man einen echten Typen nennt, der seine Meinung sagt, auch wenn sie unbequem ist, provoziert und manchmal aneckt: Stefan Kretzschmar, Sportvorstand bei den Berliner Füchsen, die Stand Ende März an der Tabellenspitze der Handball-Bundesliga stehen. Seine sportliche Laufbahn im Handball begann er mit sechs Jahren. 1993 gab er sein Debüt in der Deutschen Handball-Nationalmannschaft. Zu seinen größten Erfolgen gehört die Silbermedaille bei den Olympischen Spielen in Athen 2004. Mit seinem Verein SC Magdeburg gewann er 2002 als erste deutsche Mannschaft die EHF Champions League und kurz darauf die Club-Europameisterschaft. Welche Lehren man aus dem Profisport für den Vertrieb und Service von Cat Baumaschinen ziehen kann, war Thema des Gesprächs zwischen ihm, Fred Cordes sowie Philip Wolters beim Zeppelin Vertriebs-Kick-off in Hamburg. Die Geschäftsführer von Zeppelin Baumaschinen wollten von dem ehemaligen Profihandballer wissen, welche Parallelen zum Spitzensport bestehen und wie man eine Mannschaft formt und motiviert.

Stefan Kretzschmar (rechts), Sportvorstand bei den Berliner Füchsen und ehemaliger Profihandballer, im Gespräch mit Fred Cordes (links) sowie Philip Wolters (Mitte), den Geschäftsführern bei Zeppelin Baumaschinen.

Philip Wolters: Die deutsche Handball-Bundesliga soll die stärkste Liga der Welt sein. Klappt es diesmal mit dem ersten Platz für die Füchse Berlin?

Stefan Kretzschmar: Sportlich haben wir die Handball-Weltmeisterschaft hinter uns, bei der die deutsche Nationalmannschaft mit Platz fünf gut abgeschnitten und einen guten Eindruck hinterlassen hat. Vor dem Hintergrund, dass 2024 die Europameisterschaft stattfindet, bin ich optimistisch, dass wir wieder eine erfolgreiche Nationalmannschaft im nächsten Januar stellen können. Von der Kaderzusammenstellung her haben wir erstmals in der Geschichte der Füchse Berlin eine große Chance, die Meisterschaft zu gewinnen, obwohl man es im Sport nie vorhersehen kann. Es kommen Verletzungen dazwischen. Viele unserer Spieler waren auch bei der Weltmeisterschaft mit dabei. Im Handball ist es nicht so wie im Fußball: Es gibt nicht alle fünf Tage ein Spiel, sondern die Spieler müssen jeden zweiten Tag ran. Ein Spiel dauert 60, 65 Minuten. Im Handball wird der Körper anders belastet und mehr beansprucht. Deswegen sind wir sehr darauf angewiesen, dass alle gut durchkommen.

Stefan Kretzschmar: „Der Unterschied zwischen Erfolg haben und nicht erfolgreich sein, ist die Leidenschaft, mit der man eine Sache macht.“

Philip Wolters: Wir drücken die Daumen. Gut sieht es auch in der Europa League aus, oder?

Stefan Kretzschmar: Das ist unser zweites großes Ziel. Wir wollen natürlich immer gewinnen. Wer in der Europa League Platz eins und zwei erreicht, ist damit auch für die Champions League qualifiziert. Das gelingt in der Regel dem THW Kiel. Jetzt kommen wir. Dann gibt es noch Magdeburg. Der Wettkampf wird immer größer. Die deutsche Liga ist die stärkste der Welt. Wir sind froh über die derzeitige Ausgangsposition.

Fred Cordes: Warum ist Handball, wie Sie sagen, „der geilste und komplexeste Sport der Welt“? Was fasziniert Sie daran?

Stefan Kretzschmar: Mich fasziniert die Geschwindigkeit beim Handball, aber auch die Härte. Das ist nicht jedermanns Sache. Handball ist der Mannschaftssport, der den Körper am stärksten physisch beansprucht. Das sagt man zwar vom Eishockey auch. Doch dort trägt man eine Schutzkleidung. Diese haben wir nicht. Bei uns geht es um Athletik pur. Der Sport wird immer schneller. Sportler leben immer asketischer. Das kommt mir als verantwortlichem Sportvorstand entgegen – persönlich hätte ich so als Sportler nicht leben wollen. Da waren die 1990er- und 2000er-Jahre eine schönere Zeit. Wir sehen eine extreme Entwicklung. Das gefällt mir als Zuschauer sehr. Während eines Fußballspiels kann ich mir ein Bier holen. Das geht im Handball nicht. Wenn man da weg ist, hat man fünf Tore verpasst. Der Sport ist extrem spannend und somit faszinierend. Die Herausforderung ist es, alles miteinander zu kombinieren und daraus in meiner Funktion ein Team zusammenzustellen. Dabei geht es nicht nur darum, die besten und individuellsten Spieler zusammenzubringen, sondern man muss sich fragen: Wie funktioniert die Mannschaft am besten? Wer passt charakterlich am besten zu uns? Da spielen persönliche Gespräche eine Rolle. Und das macht es für mich so schön, mich im Rahmen dieser Sportart zu bewegen.

Fred Cordes: Nichts ist so sexy wie der Erfolg. Die Weltmeisterschaft und der Erfolg der Deutschen Nationalmannschaft haben viele für den Sport begeistert. Am Anfang der Karriere sind Sie oft auf der Bank gesessen. Was hat Sie trotzdem motiviert, an sportlichen Zielen festzuhalten?

Stefan Kretzschmar: Der Unterschied zwischen Erfolg haben und nicht erfolgreich sein, ist die Leidenschaft, mit der man eine Sache macht. Ab der ersten Minute habe ich diesen Sport über alles geliebt. Es gab keinen Plan B oder eine Alternative. Meine Eltern waren schon große Handballer und Weltmeister. Sie waren zu ihrer Zeit die besten Spieler der Welt. Klar, da ist mir etwas in die Wiege gelegt worden. Trotzdem hat es mich vom ersten Moment an fasziniert. In der Jugend war ich aber leider zu klein für den Handballsport. Deswegen hat mich der Trainer damals nicht beachtet, denn Handball ist ein sehr physischer Sport. Ich musste mich dann mit der Rolle des Ersatzspielers anfreunden. Da ist die Frage: Lässt man sich davon unterkriegen oder bleibt man weiter am Ball? Mein Antrieb und meine Motivation waren entscheidend: Ich wollte nie in der zweiten oder dritten Liga spielen. Mein Traum war schon immer, die Olympischen Spiele zu spielen. Meine Eltern waren 1980 in Moskau bei der Olympiade. Das wollte ich dann auch. Für mich gab es immer nur die Spitze. Ich wollte immer nur der Weltbeste auf meiner Position sein. Indem ich es mir vorstellen konnte, war es möglich, das Ziel auch zu erreichen.

Philip Wolters: Ist das eine Botschaft, die Sie anderen Spielern auch mitgeben? Wie macht man Spieler zu Topspielern, die Bestleistung abliefern?

Stefan Kretzschmar: Die Frage kann man individuell beantworten, aber auch aus Sicht einer Mannschaft. Jeder hat ein anderes Lebensmodell. Nicht jeder ist dazu charakterlich in der Lage, der Weltbeste auf seinem Gebiet zu werden. Der eine will einfach nur seinen Beruf ausüben und sich dann auf die Freizeit sowie Hobbys konzentrieren. Einem anderen reicht das nicht. Für mich ist es entscheidend, solche Personen zu finden, die tatsächlich die Weltbesten werden wollen. Sie sind schwer zu finden – vor allem in der heutigen Zeit, weil plötzlich vieles wichtig geworden ist. Ich bin in der DDR groß geworden. Der Sport war die einzige Chance rauszukommen. Das war eine große Motivation. Jugendliche haben diese heute nicht mehr – sie haben keinen Druck mehr. Sie zu motivieren ist eine viel größere Hausforderung als mich damals in den 1980er-Jahren. Wenn ich heute meine Mannschaft motiviere, dann muss ich das über viele Einzelgespräche machen. Früher habe ich bei einem Trainer ein Gespräch pro Jahr bekommen. Das war’s – er hat mich dann in Ruhe gelassen. Heute sind das dann fünf Gespräche die Woche, die ich mit jedem Spieler führe. Heute gibt es einen viel feinfühligeren Umgang mit den Spielern. Sie erwarten viel mehr Interaktion und fordern das auch ein. Dann ist das eine sehr gute Basis, mit den Spielern zu arbeiten. Man muss heute viel mehr im zwischenmenschlichen Bereich arbeiten.

Philip Wolters: Wenn man sich die Füchse Berlin anschaut, dann wird in dem Verein viel für die Nachwuchsförderung gemacht. Auch Zeppelin engagiert sich sehr, Nachwuchskräfte zu finden und zu binden, die Vollgas geben wollen. Besteht der Eindruck, dass heutzutage die jüngere Generation, ob Y oder Z, nicht mehr bereit dazu ist, die für den Erfolg nötige Extrameile zu gehen?

Stefan Kretzschmar: Man kann nicht alle über einen Kamm scheren. Wenn man die derbe Ansprache vergleicht, wie man vor 10, 20 Jahren mit Jugendlichen umgegangen ist, dann geht das heute nicht mehr. Der Umgang ist ein anderer. Es ist zu respektieren, dass Jugendliche auch andere Interessen haben. Trotzdem muss man einfordern, dass das, was sie machen, das Beste ist, was sie können. Das ist auch der Anspruch, um die Spitzenklasse zu erreichen. Das ist nicht immer einfach, aber lohnenswert. Wir versuchen, die besten Nachwuchsspieler nach Berlin zu holen, wo wir das beste Nachwuchsleistungszentrum haben. Dort bewerben sich junge Spieler, die bei uns trainieren wollen. In der heutigen Zeit muss man über disziplinarische Probleme nicht mehr sprechen – auch aus asketischer Sicht gibt es da keine Diskussion. Ich fühle mich manchmal als offizieller Verantwortlicher in meiner Haut nicht wohl. Ich muss gelegentlich Mannschaftsabende anordnen, damit man dann gemeinsam ein Bierchen trinken geht.

Philip Wolters (lacht): Auf diesem Gebiet spricht wohl ein echter Profi mit Erfahrung. Vielleicht können wir auch Tipps bekommen, wie wir ein perfektes Nachwuchsleistungszentrum für zukünftige Mitarbeiter aufbauen können.

Fred Cordes: Der eiserne Wille muss da sein, genauso braucht es auch die richtige Ansprache und Ausbildung. Aber ist in finaler Konsequenz nicht das Talent der entscheidende Unterschied, um erfolgreicher Profisportler zu werden?

Stefan Kretzschmar: Am Ende macht Talent 10 Prozent aus – 90 Prozent sind harte Arbeit. Es gibt ein Zitat von dem Basketballtrainer Tim Notke: Hard work beats talent when talent fails to work hard – harte Arbeit schlägt Talent, wenn das Talent nicht hart arbeitet. Das ist absolut wahr. Etwas Talent braucht es schon, aber wer hart arbeitet, kann denjenigen überholen, der nichts aus seinem Talent macht. Ich kenne einige, denen das gelungen ist, obwohl sie durchschnittliches Talent hatten, aber sie hatten Leaderfähigkeiten und waren charakterlich wertvoll für die Mannschaft.

Fred Cordes: Auch wenn der Handball etwas profitiert hat, dass in Deutschland etwas Fußball-Verdrossenheit herrscht aufgrund der WM in Katar und dem Abschneiden des deutschen Teams, stellt sich die Frage, ist man als Handballer nicht auch etwas neidisch angesichts der Popularität, die der Fußball hierzulande genießt?

Stefan Kretzschmar: Das sollte nicht passieren. Natürlich schaut man schon auf die ökonomischen Faktoren, wie man die besten Sportler der Welt verpflichten und sich besser aufstellen kann. Ich würde nur ungern mit dem Fußballer tauschen wollen. Da steht man schon noch mal in einem anderen Scheinwerferlicht, was die Öffentlichkeit betrifft. Der Druck, den Fußballer haben, ist um ein Vielfaches größer als im Handball. Unsere Spieler können relativ unbehelligt durch Berlin gehen. Etwas vom Fußball abschauen können wir uns aber bei der Professionalität oder den Leistungszentren. Wir können uns daran orientieren, wo wir noch besser werden können.

Fred Cordes: Wie steht es um die Verdienstmöglichkeiten im Handball – insbesondere in der ersten und zweiten Liga – kann man davon komfortabel leben?

Stefan Kretzschmar: Bei 5 000 bis 6 000 Euro brutto im Monat fängt man als Spieler an – durchschnittlich werden es dann in der ersten Liga 14 000 Euro brutto monatlich. Das ist viel Geld. Man kann davon sehr gut leben, solange man spielt. Allerdings sollte man parallel einen weiteren Beruf aufbauen. Unsere Spieler trainieren zwei Stunden am Tag. Da ist genug Zeit für Familie und für ein Studium. Wir haben ein großes Netz an rund 200 Sponsoren. Es gibt die Möglichkeit, eine Berufsausbildung zu machen. Und die Möglichkeiten sind gut, sich auf das Leben nach dem Profisport vorzubereiten. Ich empfinde es aber auch als Vorteil, weil die Spieler über den Tellerrand hinausschauen und nicht nur in einer Blase leben, sondern sich auch für anderes interessieren.

„Ohne Talent geht es nicht, aber wer hart arbeitet, kann Spitzenleistung erreichen“ – so die Botschaft, die Stefan Kretzschmar den Zeppelin Mitarbeitern mit auf den Weg gab.

Philip Wolters: Fußball in Deutschland – so die Wahrnehmung – schwächelt. Die Zuschauerzahlen in der Bundesliga gehen zurück. Reizt es nicht, in diese Lücke reinzustoßen, um noch mehr Aufmerksamkeit, mehr Sponsoren und als Spieler mehr Anerkennung zu bekommen?

Stefan Kretzschmar (lacht): Viele Unwissende kokettieren damit, das so zu beschreiben. Aber Fußball ist eine Weltsportart und Handball davon weit entfernt. Handball spielt auf dem europäischen Kontinent eine Rolle und in einigen Ländern in Südamerika sowie in Vorderasien. Das war es dann auch. Hinzu kommt: Leute erkennen, ob etwas glaubwürdig oder vom Marketing initiiert ist. Ich glaube, bei der WM in Katar sind viele Fauxpas passiert. Diese haben nicht die Spieler verursacht, sondern eher Agenturen. Wenn dann Eintrittskarten bei einem Fußballspiel hundert Euro kosten und Kinder kaum noch Möglichkeiten haben, sich ein Länderspiel anzuschauen, dann geht man den völlig falschen Weg. Im Fußball ist die Nahbarkeit der Spieler verloren gegangen – nicht so bei den anderen Sportarten. Es gibt bei uns einen anderen Fankontakt und Austausch. Trotzdem ist Fußball die Sportart Nummer eins und wird es auch immer bleiben.

Philip Wolters: Als Führungskraft muss man im Arbeitsleben sein Team immer wieder auch mal durch Höhen und Tiefen führen. Sie haben selbst mit zwei Trainern gearbeitet, die bemerkenswert waren: Heiner Brand und Alfred Gislason. Es waren zwei verschiedene Führungspersönlichkeiten. Wer konnte Sie besser führen?

Stefan Kretzschmar: Es waren unterschiedliche Mentoren. Mein Vorbild war mein Vater. Er war eine besondere Persönlichkeit: nachdenklich und hatte eine große Aura. Sportlich gab es auch Vorbilder, von denen man gerne was abgeschaut hat. Heiner Brand war taktisch einer der schlechtesten Trainer, den ich kenne. Doch seine Persönlichkeit war unfassbar. Wenn er in die Kabine kam, nahm er mit seiner Aura den Raum ein. Die Frage ist: Was macht einen Trainer und eine Führungskraft aus? Es gibt sogenannte Laptop-Trainer, die eine Strategie bis ins kleinste Detail entwickeln, die bei der Ernährung nichts dem Zufall überlassen und alles haarklein planen. Oder man ist ein Trainer, der mit seinem Aufritt eine Mannschaft führt und ein typischer Teammanager ist, indem er die besten Spieler des Landes einfach machen lässt. Man weiß, was sie können. Das mag im Vertrieb von Baumaschinen auch so sein wie bei einem Handball-Nationaltrainer und den Spielern: Der oberste Boss hat eine andere Aufgabe als ein Verkäufer. Ein Vereinstrainer muss anders arbeiten und mit mir anders umgehen als ein Trainer einer Nationalmannschaft. Dieser muss mich einfach nur machen lassen. Jürgen Klopp ist als Trainer ein Menschenfänger – er bekommt seine Spieler durch Gespräche und kann einen Spieler emotionalisieren und so kann er aus einem Spieler alles rausholen.

Fred Cordes: Wenn man über den „Typ Kretzsche“ spricht, weiß man sofort, dass Sie eine Ikone des Handballs sind. Woher kommt diese Identifikation?

Stefan Kretzschmar: Ich bin in der DDR als Sohn zweier sehr linientreuer Menschen aufgewachsen. Ich empfand den Sozialismus als das bessere Gesellschaftssystem. Bis dann die Mauer fiel, war ich ein Junge, der brav zur Sportschule ging. Alles war bislang in Ordnung. Dann entwickelte ich eine Abneigung gegen das System. Ich fand mich in der linken Szene von Berlin wieder und ich wurde zum Rebell. Man fing an, sich die Haare zu färben und sich tätowieren zu lassen. Anfang der 1990er-Jahre hat das viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, weil es auch nicht so salonfähig war wie heute. Dann habe ich viele provokative Parolen rausgehauen, vieles ist aus heutiger Sicht peinlich. Die Jugend fand das gut. Dann kam die Einladung in die Harald-Schmidt-Show. Das hatte vor mir auch noch kein Handballer gemacht. Ich hatte mich laut verkauft. Das spielte alles zusammen, um populärer zu werden. Es war aggressives Marketing. Viele haben versucht, das zu kopieren, was nicht funktioniert hat. Ich bin angeeckt und habe provoziert. Allerdings habe ich auch mein Leben als Leistungssportler anders genossen als die besten Leistungssportler heute. Darauf bin ich stolz.

Philip Wolters: Waren Sie auf dem Handballplatz ein Vollprofi oder sind auch Trainer an Ihnen verzweifelt?

Stefan Kretzschmar: Beides. Jetzt bin ich selbst verantwortlich und möchte mit jemand wie ich es war nicht zusammenarbeiten. Wir hatten ein Champions-Leauge-Spiel in Island. Wir reisten am Samstag an. Sonntag war das Spiel – es war das wichtigste Spiel des Jahres. Weil der Kapitän verletzt war, sollte ich diese Funktion übernehmen. Es war das erste Mal in meiner Karriere. Ich wusste jedoch, dass am Sonntag in Island nichts los ist – anders am Samstag. Da muss man am Abend vorher ausgehen. Ich habe sicherheitshalber den Konkurrenten auf meiner Position mitgenommen. Wir gingen in eine Bar und auf dem Heimweg sind wir an einer Disco vorbei. Der Abend endete um sechs Uhr morgens. Im Hotel haben wir noch etwas geschlafen, bis zur Mannschaftsbesprechung. Ich führte die Mannschaft aufs Feld, wir gewannen 34:31 und ich erzielte zwölf Tore. Der Trainer war völlig zufrieden. Am Montagmorgen schaut er sich das Spiel im Nachgang an – mit isländischem Originalkommentar. Da erfuhr er von unserem Ausflug, als der Reporter erklärte, wie ich so spielen könne, wenn ich die Nacht durchgemacht habe. Es gab natürlich einen Einlauf. Ich musste 500 Euro in die Mannschaftskasse zahlen. Der Trainer meinte: Ich weiß, dass du umso besser spielst, wenn du am Abend unterwegs warst. Aber nimm in Zukunft keinen mehr mit. Was ich sagen will: Manche sind dafür gemacht, andere nicht.

Fred Cordes: Woraus lernt man mehr: aus Siegen oder Niederlagen?

Stefan Kretzschmar: Da muss man nicht lange nachdenken. Man wächst aus Niederlagen. Das sind die einzigen Momente, in denen man sich als Mensch infrage stellt. Wenn man erfolgreich ist, hat man selten Menschen um sich herum, die einem die Wahrheit sagen. Mir war es immer wichtig, dass ich Freunde hatte, die mit Sport nichts zu tun hatten. So hatte ich einen Blick in die Welt außerhalb des Sports. Man merkt erst, wenn es einem wirklich schlecht geht, auf wen man sich verlassen kann. Das ist schmerzhaft, aber reinigend, solche Momente zu erleben. Siege geben ein kurzzeitiges Glücksgefühl, werden aber dich als Mensch nicht stärken.

Fred Cordes: Was war Ihre größte Niederlage?

Stefan Kretzschmar: Das war das Viertelfinale der Olympischen Spiele in Sydney, als ich den Wurf in den Sand gesetzt hatte. Damit zerplatzte ein Traum von 18 Männern. Das war brutal und hat mich jahrelang begleitet, weil ich die ganze Mannschaft enttäuscht hatte.

Fred Cordes: Und der größte Sieg?

Stefan Kretzschmar: Keine Frage: Das war der Gewinn der Champions League 2002 mit dem SC Magdeburg. Denn das hatte für die Stadt eine große Bedeutung, weil dort der Enthusiasmus für den Sport so groß ist.

März/April 2023