Indo-Pazifik ist Gravitationszentrum der Welt

Ein düsteres Bild der weltpolitischen Lage zeichnete der ehemalige Bundesaußen- und -wirtschaftsminister Sigmar Gabriel auf der Jubiläumsfeier von Caterpillar und Zeppelin in Friedrichshafen. Der Ex-SPD-Chef skizzierte die neue Weltordnung und stellte klar, warum es ein starkes Europa braucht, um der Entwicklung entgegenzuwirken. Das Zeppelin Management mit Peter Gerstmann, Fred Cordes und Holger Schulz tauschte sich mit Sigmar Gabriel aus.

Peter Gerstmann: Wie beurteilen Sie die aktuelle geopolitische Situation vor dem Hintergrund der Zeitenwende?

Sigmar Gabriel: Aus meiner Sicht ist der Angriff Russlands auf die Ukraine eher eine Folge als der Beginn oder die Ursache der Zeitenwende in der globalen Politik. Wir sind am Ende der Nachkriegsordnung des Zweiten Weltkriegs angekommen, die vor allem in den letzten drei Jahrzehnten vom Westen und seiner Führungsmacht USA dominiert wurde. Viele Staaten und Nationen insbesondere des globalen Südens waren an dieser globalen Ordnung in der Folge des Zweiten Weltkriegs nicht beteiligt. Wir haben sie lange Zeit „Entwicklungsländer“ oder sogar „Dritte Welt“ genannt. Dazu gehören Indien, China, aber auch die Völker Afrikas oder Lateinamerikas. Sie alle wollen sich nicht vom Westen und insbesondere nicht von den USA führen lassen. Diese Ablehnung des Führungsanspruchs eint diese Länder. Völlig unklar bleibt dagegen, wie die neue Weltordnung des 21. Jahrhunderts eigentlich aussehen soll? Wir leben also in einer Art „G-0-Welt“, in einer Übergangszeit ohne globale Ordnung, wie es der amerikanische Publizist Ian Bremmer beschrieben hat. Und in dieser Zeit voller Instabilität und Unsicherheit versuchen viele Staaten, sich für das Ringen um die globale Ordnung des 21. Jahrhunderts möglichst stark und unabhängig aufzustellen.

Das Zeppelin Management mit Peter Gerstmann (links), Fred Cordes (Zweiter von rechts) und Holger Schulz (rechts) tauschte sich mit Sigmar Gabriel aus.  Foto: Zeppelin/Sabine Gassner

Holger Schulz: Kommt deshalb der Nationalismus wieder an die Oberfläche?

Sigmar Gabriel: Das ist vermutlich der entscheidendste Grund für das Erstarken des Nationalismus und die Rückkehr des Protektionismus. Und einige Staaten – wie Russland – wollen diese Phase der Instabilität nutzen, um sich selbst wieder zur Großmacht zu machen. Das dürfte der eigentliche Grund des Überfalls auf die Ukraine gewesen sein. Die Frage ist: Wie reagiert Europa darauf? Denn der Bedeutungsverlust des Westens ist zugleich ein Bedeutungsverlust Europas. Man kann auch sagen, dass 600 Jahre des europäischen Zeitalters, das mit der Entdeckung des Seewegs nach Amerika begonnen hatte, nun unwiderruflich zu Ende gegangen sind. Nicht mehr der Atlantik ist das Gravitationszentrum der Welt, sondern der Indo-Pazifik. Was also will und kann Europa tun, um in dieser tektonischen Veränderung der globalen Machtverteilung nicht an den Rand gedrängt zu werden? Das halte ich für die entscheidende und leider ungelöste Frage für uns und unsere Kinder.

Fred Cordes: Die bestehende Weltordnung ist im Umbruch: Worauf muss sich Deutschland einstellen?

Sigmar Gabriel: Vor allem darauf, dass praktisch alle Bedingungen, die in den letzten Jahrzehnten zu dem außergewöhnlichen wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands beigetragen haben, sich verändern: preiswerte Energie- und Rohstoffimporte, abnehmende Handelsbarrieren und ein regelbasierter Welthandel, China als preiswerter Warenlieferant und weitgehend uneingeschränkt attraktiver Investitionsstandort und nicht zuletzt Frieden in Europa. Das alles war wie gemacht für die Exportnation Deutschland. Wir waren neben China der große Globalisierungsgewinner. 50 Prozent unseres Wohlstands stammen aus dem Export. Nur Schweden hat in Europa eine ähnlich hohe Exportabhängigkeit. Deshalb trifft uns die Veränderung all dieser Rahmenbedingungen nun auch besonders stark. Wir haben einen harten Anpassungsprozess an eine veränderte Globalisierung vor uns. Vor allem müssen wir als Investitions- und Innovationsstandort wieder aufholen, um international attraktiv zu bleiben.

Peter Gerstmann: Wovon geht die größte Gefahr für uns aus: vom Ukraine-Krieg, vom Krieg im Nahen Osten oder von einem neuen Kalten Krieg? 

Sigmar Gabriel: Aus meiner Sicht geht die größte Gefahr von den Wahlen in den USA aus. Dort droht eine noch tiefere Spaltung der Gesellschaft, ganz egal, wer gewinnt. Wenn die westliche Führungsmacht USA ausfällt, weil sie sich nur mit sich selbst beschäftigt, macht das die Welt nicht sicherer, sondern unsicherer. Für die großen Menschheitsherausforderungen wie den Klimawandel oder die Bekämpfung von Pandemien scheint mir die wachsende Spaltung zwischen dem Norden und dem globalen Süden das größte Problem zu werden. Wenn wir auf längere Zeit in dieser Welt ohne Ordnung leben, wird es uns nicht gelingen, diesen großen Menschheitsherausforderungen gemeinsam entgegenzutreten.

Holger Schulz: Müsste Deutschland mehr unternehmen, um einen Sieg Putins zu verhindern?

Sigmar Gabriel: Deutschland tut nach den USA am meisten, um die Ukraine zu unterstützen. Und zwar sowohl finanziell wie auch militärisch. Die Grenze, die alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union wie der NATO für ihre Unterstützung der Ukraine gesetzt haben, betrifft eine unmittelbare Konfrontation mit Russland. Weder die NATO noch Russland wollen in eine direkte Konfrontation geraten, denn dies wäre schnell ein Krieg zwischen Nuklearmächten. Unterhalb dieser Grenze muss der Westen alles tun, um die erneute Angriffswelle Russlands gegen die Ukraine abzuwehren.

Fred Cordes: Wäre Europa stark genug, eine Einheit zu bilden, um sich als ernsthafte Gegenmacht zu positionieren? Was müsste sich ändern, um eine echte Gemeinschaft in Europa zu werden?

Sigmar Gabriel: Europa hat sich in den letzten Jahren bereits als echte Gemeinschaft bewiesen. Wer hätte gedacht, dass wir gemeinsam die Corona-Pandemie bekämpfen und danach ein großes gemeinsames Wiederaufbauprogramm für die europäische Wirtschaft auf den Weg bringen? Wer hätte gedacht, dass Europa geschlossen gegen Russlands Aggression in der Ukraine auftritt und gemeinschaftlich den Energie-Erpressungsversuchen Russlands widersteht? In Europa kommt es nicht darauf an, dass wir neue Gemeinschaftsinstitutionen schaffen oder von den Vereinigten Staaten von Europa schwärmen. Sondern es kommt auf die Einigkeit der Mitgliedstaaten Europas an. Sie bilden zusammen das europäische Herz. Und diese Einigkeit zu erhalten und zu stärken, ist die wichtigste politische Aufgabe.

Peter Gerstmann: Was würde eine Wiederwahl von Donald Trump für unser Land und für Europa bedeuten?

Sigmar Gabriel: Ehrlicherweise weiß man das nicht genau, weil Donald Trump eben ein sehr erratischer Politiker ist. Vermutlich wird es wieder um Handelskonflikte zwischen den USA und Europa gehen. Und gewiss auch um die finanziellen Beiträge der Europäer zur Verteidigungsfähigkeit der NATO. Hier liegt vermutlich die größte Gefahr, denn wenn ein amerikanischer Präsident die NATO in Zweifel zieht, ist das wie eine Einladung an Moskau, unsere europäische Einigung mal zu testen. Das ist der Grund, warum die Esten und auch die Schweden sich Sorgen machen. Aber es gibt Gott sei Dank auch unter den Trump-Anhängern im US-Kongress und US-Senat noch genügend Anhänger und Unterstützer der transatlantischen Verteidigungsallianz.

Mai 2024