KI als Schutzengel

Ein Kommentar von Sonja Reimann

Erst gestern ist es wieder bei einer Reportage passiert. „Müssen wir Bauhelm, Warnweste und Sicherheitsschuhe überhaupt tragen?“, wurde ich mit der Frage überrascht. Die PSA, die persönliche Schutzausrüstung, ist immer noch nicht Teil der DNA bei allen, die sich auf Baustellen bewegen oder dort arbeiten. Es herrscht fatalerweise Schlendrian. Die Liste der Ausreden ist lang: Bislang ist doch auch nichts passiert. Der Helm behindert mich. Der Schuh drückt. Dabei kann es inzwischen nicht mehr am rein funktionalen Image der Arbeitskleidung liegen – sie ist längst alltagstauglich geworden, wenn sich Sicherheitsfunktionen mit Modeelementen vermischen. Arbeitsschuhe sind Statement-Piece. Das Outfit, vorgesehen für den harten Arbeitsalltag, tragen die Helden der Baustelle auch in ihrer Freizeit.

Foto: Caterpillar/Zeppelin

Woran es dennoch mangelt, ist das Bewusstsein für Sicherheit. Das kann nur entstehen, wenn Vorgesetzte permanent auch Arbeitssicherheit einfordern, Mitarbeiter für potenzielle Risiken sensibilisieren und den Wert der PSA vermitteln – sie kann im extremsten Fall Leben retten. Einer der Spitzenreiter bei tödlichen Unfällen ist die Baubranche. Die meisten Unfälle passieren aufgrund von Stürzen.

Studien haben ergeben, dass Mitarbeiter, die sich sicher fühlen, das als Wertschätzung wahrnehmen und sie zufriedener mit ihrem Arbeitgeber sind. Das wirkt sich auf die Betriebszugehörigkeit aus, weil sie ihrem Unternehmen länger die Stange halten und nicht zum Wettbewerb abwandern. Ein weiterer Grund, beim Arbeitsschutz nicht nachzulassen.

Darum braucht es regelmäßige Schulungen, damit sich keine Nachlässigkeit einschleicht. Aber genauso wichtig: Die Führung hat eine Vorbildfunktion und muss auch vorleben, wie wichtig Arbeitssicherheit ist. Lob und Motivation schaffen ein Klima, das Mitarbeiter verleitet, Vorschriften einzuhalten und PSA zu tragen. Dabei betrifft es nicht nur jeden einzelnen, sich und seine Gesundheit zu schützen, sondern es lassen sich für Baubetriebe erhebliche Kosten reduzieren. Neben medizinischen Ausgaben geht es auch um Folgekosten, wenn eine Baumaschine steht, weil der Baggerfahrer durch einen Arbeitsunfall im Krankenhaus liegt oder in Reha ist.

Inzwischen schreiten innovative Sicherheitslösungen mit riesigen Schritten voran, um den Arbeitsschutz auf Baustellen zu erhöhen und Gefahrenstellen zu analysieren. So können in Zukunft VR-Brillen Planungsfehler aufdecken, wenn etwa Absturzsicherungen zu niedrig ausfallen. Drohnen fliegen das Baufeld ab und zeigen Gefahrenquellen an. Intelligente Helme zeichnen schon bald dank KI Auffälligkeiten auf, wenn etwa die Herzfrequenz eines Mitarbeiters plötzlich flimmert, und alarmieren dann gleich den Notarzt. Kommen autonom fahrende oder ferngesteuerte Baumaschinen in Gefahrenbereichen zum Einsatz, kann das Unfallrisiko deutlich reduziert werden und es steht kein Menschenleben auf dem Spiel. Solche Technologien fordern finanzielle Ressourcen, die gerade kleine Unternehmen vor Herausforderungen stellen, weil sie diesen Aufwand nicht stemmen können. Eine weitere Hürde: Es braucht Mitarbeiter, die für solch einen Umgang qualifiziert sind.

Bei allen Maßnahmen und Möglichkeiten, die bestehen, bleibt immer ein gewisses Restrisiko. Doch lässt sich vieles vermeiden, wenn Sensoren die Teams auf den Baustellen bei ihrer Arbeit unterstützen und KI der Überwachung, Messung und Optimierung der Arbeit dient.

Abzuwägen wäre jedoch auch, ob das Leben einer großen Gefahr ausgesetzt wird oder KI damit nicht auch der totalen Überwachung am Arbeitsplatz Tür und Tor öffnet. Das auszuschließen und mit dem Datenschutz in Einklang zu bringen, wird in Zukunft ebenso Aufgabe von Arbeitsschutz werden.

September/Oktober 2024