Von der Ausnahme zum Alltag

Sie sind nach wie vor eher selten auf Baustellen anzutreffen: Nur jeder zehnte Beschäftigte im Bauhauptgewerbe ist weiblich, meldet die Bundesagentur für Arbeit. Immerhin sind von den derzeit knapp 60 000 Studierenden des Fachs Bauingenieurwesen 18 000 Frauen, damit macht ihr Anteil mittlerweile rund 30 Prozent aus. Der geringe Frauenanteil geht auf ein Beschäftigungsverbot im Bauhauptgewerbe in den westdeutschen Bundesländern zurück, an das sie sich bis 1994 zu halten hatten. Das Argument: Die Arbeit auf Baustellen sei zu schwer und zu schmutzig. Anders war es in der ehemaligen DDR. Dort haben Frauen große Bagger im Tagebau bewegt. Das wirkt bis heute nach. Und somit ist noch viel Luft nach oben, weiß auch die Branche. „Wir sind gefordert, die Attraktivität unserer Berufe zu betonen und hervorzuheben. Dabei geht es nicht nur um die administrativen oder ingenieurtechnischen Berufe, sondern ganz klar auch um die Berufszweige im gewerblichen Bereich“, äußert Tim Lorenz, der Vizepräsident Wirtschaft des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie.

Immerhin zählen 2,1 Prozent der Auszubildenden in bauhauptgewerblichen Berufen zum weiblichen Geschlecht. Vor zwei Jahren waren es noch 1,8 Prozent. „Aufgaben und Prozesse haben sich durch innovative und technische Entwicklungen verändert. Wir sehen zum Beispiel vermehrt Baugeräteführerinnen, das ist sehr erfreulich“, betont Lorenz. Doch damit nicht genug. Denn innerhalb der nächsten zehn Jahre geht rund ein Viertel der Baufacharbeiter in Rente und neue Mitarbeiter werden vielerorts erfolglos gesucht. Tatsächlich studieren inzwischen mehr junge Frauen Bauingenieurwesen als beispielsweise Maschinenbau. Der Frauenanteil stieg im Fachbereich Bauingenieurwesen zwischen 2007 und 2018 laut Hauptverband der Deutschen Bauindustrie von 19 auf 29 Prozent, während der Anteil der Studentinnen im Maschinenbau 2018 bei zwölf Prozent lag. Auch die Mitgliederzahlen der Ingenieurkammer-Bau Nordrhein-Westfalen (IK-Bau NRW), der größten Länderingenieurkammer in Deutschland, bestätigen diese Entwicklung: Während der Frauenanteil bei den Mitgliedern im Alter von 55 bis 67 Jahren nur bei knapp sieben Prozent liegt, sind von den 25- bis 34-jährigen Kammermitgliedern rund ein Viertel Frauen. Auch das Berufsleben spiegelt diesen Trend: Von den sozialversicherungspflichtig angestellten Bauingenieuren waren im Jahr 2018 knapp 30 Prozent Frauen, in der öffentlichen Verwaltung lag der Frauenanteil sogar bei 44 Prozent. „Wir wollen und müssen zeigen, dass der Bau viele Möglichkeiten bietet, einen spannenden Beruf auszuüben, mit viel Entwicklungspotenzial in einer zukunftsweisenden, innovativen, gesellschaftsrelevanten Branche. Und wir müssen dafür sorgen, dass sich die Gehaltslücke zwischen Frauen und Männern schließt“, fordert Lorenz die Unternehmen auf.

Mehr Frauen für Jobs rund ums Bauen begeistern. Foto: auremar/Adobe Stock

Eine, die längst das Problem erkannt hat, ist Barbara Hagedorn, Geschäftsführerin der Hagedorn Unternehmensgruppe. Aufgrund de drohenden Fachkräftemangels will sie verstärkt Frauen ansprechen und sie von der Attraktivität der Bau-Arbeitswelt überzeugen. Keine einfache Aufgabe, wie sie etwa gegenüber der Presse einräumt. Eine nicht repräsentative Online-Umfrage ihrer Unternehmensgruppe unter mehr als 800 Mitarbeitern der Branche ergab: Rund 80 Prozent der Befragten empfinden Sexismus und geschlechterspezifische Vorurteile nach wie vor als Problem auf Deutschlands Baustellen. Zudem haben etwa 70 Prozent der Frauen den Eindruck, dass sie es in der Branche schwerer haben als Männer. „Dank neuester Technik zählt heute weniger die pure Muskelkraft, sondern der Umgang mit komplexen Maschinen. Im Jahr 2021 gibt es keinen Beruf mehr im Bau und Abbruch, den eine Frau nicht ausüben könnte. Was fehlt, sind echte Vorbilder und das Vertrauen der Kollegen“, erklärt Barbara Hagedorn. Angst vor Schweiß und Muskelkraft muss keine Frau mehr haben.

Auch das Bauunternehmen Heinz Lange, das von Geschäftsführerin Janet Lange geleitet wird, will die Hemmschwelle nehmen und veranstaltet regelmäßig Schnuppertage, wie einen Mädchen- Zukunftstag im Rahmen des einmal im Jahr stattfindenden Girls’ Day. Dieser Aktionstag findet inzwischen in über 25 Ländern statt, damit Schülerinnen ab der fünften Klasse aufwärts Berufe oder Studienfächer kennenlernen, in denen der Frauenanteil unter 40 Prozent liegt. Er soll Mädchen und Frauen motivieren, technische und naturwissenschaftliche Berufe zu ergreifen. Janet Lange hat auch in diesem Jahr wieder mit fünf Teilnehmerinnen Baustellen in Dresden und Ottendorf-Okrilla besucht. „Bisher haben wir ganzjährig die verschiedensten Angebote genutzt, um potenziellen Nachwuchs für unser Unternehmen zu finden. So sind wir beispielsweise auf den obligatorischen Ausbildungsmessen vertreten gewesen und haben selbst sogenannte Baggertage veranstaltet. Hier konnten Jungs und Mädchen erste Erfahrungen mit einem echten Bagger sammeln, was auf großen Zuspruch stieß und wodurch wir bereits einige Interessentinnen für uns gewinnen konnten. Der Girls’ Day ist für uns eine weitere Möglichkeit, Auszubildende und Interessenten für duale Ausbildungsgänge zu finden und für den Berufszweig zu gewinnen“, so Janet Lange, die als weibliches Vorbild in einer Führungsposition in einem ansonsten männerdominierten Berufszweig den Mädchen aus ihrem bisherigen Erfahrungsschatz berichten kann. Das Bauunternehmen legt seit vielen Jahren Wert darauf, den Nachwuchs im eigenen Hause auszubilden. Das Kerngeschäft sind Erschließungen und Spezialtiefbauarbeiten. Daher werden Ausbildungsplätze zum Baugeräteführer, Bau- und Landmaschinenmechatroniker, Straßenbauer sowie Tiefbaufacharbeiter und Beton- und Stahlbetonbauer angeboten. Zudem ist das Team rund um Janet Lange Partner in der dualen Ausbildung. „Besonders spannend finde ich, dass junge Mädchen ganz ungezwungen Einblicke in Berufe aus den Bereichen IT, Handwerk, Naturwissenschaften und Technik erlange können. Auch heute noch sind junge Frauen in diesen Ausbildungsberufen und in Studiengängen wie beispielsweise Ingenieurwissenschaften deutlich unterrepräsentiert, obwohl sie bei entsprechendem Interesse hervorragend dafür geeignet wären“, informiert Geschäftsführerin Janet Lange und fügt hinzu: „Durch die geringen Kontaktpunkte von Mädchen und jungen Frauen während der Berufsfindungsphase mit diesen Berufszweigen schöpfen sie nicht alle Möglichkeiten aus, die ihnen zur Verfügung stehen würden. Dies hat für ein Unternehmen wie unseres zur Folge, dass qualifizierter Nachwuchs in technischen und techniknahen Bereichen fehlt. Ganz spannend finde ich auch, dass der Girls’ Day die Option bietet, Rollenklischees persönlich zu hinterfragen und sich mit den individuellen Lebensträumen vielleicht auch kritisch auseinanderzusetzen, und das jenseits gesellschaftlicher Normen.“

Hoffnung macht auch die Beteiligung beim jährlichen, bundesweiten Schülerwettbewerb Junior.ING, der sich an Schüler aus NRW richtet. Dazu Dr. Heike Rieger, Vorstandsmitglied der IK-Bau NRW: „Auch wenn sich die Rolle der Frauen im Bauingenieurwesen verbessert hat, bleibt noch viel zu tun. Mit unserer großen Nachwuchs- und Imagekampagne Bling.Bling, di im Mai startet, wollen wir zeigen, dass die Berufswirklichkeit inzwischen viel moderner ist als ihr Ruf. Schön wäre es, wenn in absehbarer Zeit die Hälfte der Universitätsabsolventen Frauen sind.“ In der Arbeitswelt wirkt die Digitalisierung auch im Baugewerbe als Beweggrund einer allgemeinen Modernisierung. Wo Frauen früher an geschlossenen Männernetzwerken scheiterten, eröffnet das Internet heute ganz neue Möglichkeiten. Laut Evelyn Brock, Gründungsberaterin aus Köln meiden viele Frauen gemischt Netzwerke, „weil sie dort nicht richtig wahrgenommen und gehört werden. Sie vernetzen sich deshalb gerne mit anderen Frauen. Diese Netzwerke sind sinnvoll und haben ihre Berechtigung, aber manchmal sind sie eben auch die Kuschelecke des Netzwerkens und die Geschäfte werden eher in den gemischten Netzwerken gemacht.“ Von Kuschelecke kann beim Netzwerk selbstständiger Frauen in der Bauwirtschaft „Frau liebt Bau“ keine Rede sein; hier geht es auch um Aufträge und Umsätze. Bauingenieurin Sarah Kosmann: „Unser Netzwerk führt zu vielen Kooperationen und bringt immer wieder neue Aufträge. Die Digitalisierung ermöglicht es mir, nicht nur für Auftraggeber vor Ort zu arbeiten, sondern meine Planungsleistungen bundesweit anzubieten. Auch deshalb bin ich weniger auf regionale, klassische Netzwerke angewiesen.“

„Trotz dieser Erfolge wünscht sich die IKBau NRW mehr selbstständige Bauingenieurinnen. Denn noch immer machen sich deutlich weniger Frauen als Männer selbstständig. Hat man im Hinterkopf, wie viele selbstständige Bauingenieure und Bauingenieurinnen in den nächsten Jahren das Rentenalter erreichen, wird klar, dass wir auch als Gesellschaft dringend Gründerinnen ermutigen müssen“, so Annette Zülch, Vorstandsmitglied der IK-Bau NRW. Tatsächlich gründen Frauen nur 30 Prozent der Unternehmen und während nach Zahlen der bundesweiten Gründerinnenagentur bga die Zahl der weiblichen Soloselbstständigen von 2003 bis 2013 um fast 38 Prozent wuchs, stieg die Zahl der Unternehmerinnen mit Beschäftigten im gleichen Zeitraum nur um zwölf Prozent. Dazu passt, dass 66 Prozent der Frauen im Nebenerwerb gründen. Zudem gilt, je mehr Mitarbeiter ein Unternehmen hat, desto unwahrscheinlicher ist es, dass das Unternehmen von einer Frau gegründet und geführt wird.

Nach Erfahrung von Rita Keuneke, einst selbst Gründerin, heute angestellte Geschäftsführerin eines großen Ingenieurbüros und im Ingenieurinnenbund engagiert, schreckt nicht allein die Furcht vor mangelnder Flexibilität in der Kindererziehung ab: „Der Grund, warum Ingenieurinnen eher keine größeren Unternehmen gründen oder übernehmen, liegt nicht allein in der Kinderbetreuung. Die Work-Life- Balance spielt eine Rolle, das Bild des Unternehmers, der mindestens 60 Stunden in der Woche arbeiten muss, schreckt ab.“ Dabei lassen sich auch Kinder und Karriere als Unternehmerin mit Verantwortung für Mitarbeiter vereinbaren, wie das Beispiel der selbstständigen Bauingenieurin Sarah Kosmann zeigt. „Nach der Gründung dauerte es etwa ein Jahr, bis es wirklich lief. Jetzt habe ich den ersten Mitarbeiter eingestellt. Doch auch hier hilft die Digitalisierung, einen neuen Führungsstil und neue Konzepte zu etablieren.“

Mai/Juni 2021